Buch der Woche:
Am Beispiel eines Lebens - Autobiografische Schriften Uwe Timm
Leseprobe:
Er heißt Klaus, ist einige Jahre jünger als ich und mein Cousin. Ich habe ihn seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Er wuchs bei seiner Großmutter, meiner Tante Grete, auf, im Gängeviertel, Ecke Brüderstraße–Großer Trampgang. Dort war bis zur Währungsreform der Schwarzmarkt und bis in die sechziger Jahre ein Amateurstrich für Hausfrauen und Schulmädchen. Vom Küchenfenster meiner Tante aus konnte man die Frauen beobachten, die dort am späten Nachmittag, vom Einkaufen kommend, oft noch mit dem Einkaufsnetz in der Hand, auf Kundschaft warteten. Hin und wieder, wenn nichts ging, kam eine der Frauen herauf, sie wohnten ja in der Nachbarsch
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ine der Frauen herauf, sie wohnten ja in der Nachbarschaft, setzte sich in Tante Gretes Küche, trank eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette und redete mit den anderen, die auch nur mal eben auf einen Sprung vorbeigekommen, dann aber sitzen geblieben waren, weil sie sich festgeklönt hatten. Menschen, die ich bei uns zu Hause nie zu Gesicht bekam: Rausschmeißer, Ewerführer, Werftarbeiter, Nutten, Maschinisten, Matrosen, Steuerleute. Der Hafen war nicht weit, und man hörte bei Südwestwind die Presslufthämmer der Nieter von der Stülkenwerft. Wer in die Küche von Tante Grete kam, tat das, um andere zu treffen, um zu erzählen und zuzuhören und nebenbei eine Tasse Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen, denn das gab es bei Tante Grete auch in der sogenannten schlechten Zeit, als bei uns zu Hause Muckefuck getrunken wurde und mein Vater Zigaretten der Marke Schreberstolz rauchte: Bohnenkaffee und echte Amis. Onkel Hans arbeitete nämlich zu der Zeit im Hafen, als Pförtner in einem Schuppen. Dort wurde der Kaffee verladen, und dabei platzten regelmäßig Säcke auf, gingen immer wieder Kisten mit Zigaretten zu Bruch.Ich saß in der Küche, zusammen mit Klaus, und durfte zuhören, was die Erwachsenen sich zu erzählen hatten: Der Trümmermörder ging um, seine Opfer wurden in den Ruinen der Stadt gefunden, nackt, eine Drahtschlinge um den Hals, ein Zollbeamter, der einmal scharf auf einen Schmuggler geschossen hatte, fiel eines Tages in einen Getreidesilo, ein Spätheimkehrer hatte den Mann, den er im Bett seiner Frau fand, mit einem schweren Bronzeaschenbecher erschlagen, dann seine Frau mit einem Brotmesser niedergemacht. Neben diesen grellen Geschichten, die immer wieder neu und anders erzählt wurden, gab es auch die ganz alltäglichen Geschichten, wer was von wem gehört hatte, Fehlgeburten, Arbeitssuche, Schlägereien, Abtreibungen, hartnäckige Tripper, verzweifelte Schuldner, gnadenlose Gläubiger und immer wieder und detailreich Liebesgeschichten, schnelle Nummern in Treppenhäusern oder verwickelte, irrwitzige Zweier-, Dreier-, Viererbeziehungen. Das alles wurde erzählt, ohne dass ich aus der Küche musste oder der Erzähler, wie bei uns zu Hause, durch ein Pscht oder einen schnellen Seitenblick zum Verstummen gebracht wurde. Eine fürchterliche Gegend, fürchterliche Leute, schade um Tante Grete, sagte mein Vater und verbot mir, in die Brüderstrasse zu gehen. Also ging ich heimlich hin. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Nahm auch die väterlichen Ohrfeigen in Kauf, wenn er mich ertappte oder wenn ich wieder einmal zu spät kam.Was konnte man aber auch in dieser Küche alles erfahren, was einem zu Hause nie zu Ohren kam. Was gab es für außergewöhnliche Dinge und für sonderbare Menschen. Natürlich wurde in der Küche gelogen, dass sich die Balken bogen. Aber es ging ja auch nicht darum, irgendein Ereignis haarklein nachzuerzählen, sondern man wollte mitteilen, wie man selbst zu den Menschen und Dingen stand, welche Bedeutung man ihnen durch die Erzählung gab und welche Bedeutung man sich damit selbst gab. So wurde vergrößert und verkleinert, und meist wurde das Kleine größer und das Große kleiner, so wurde, und zwar sehr kunstvoll, erzählend Wirklichkeit interpretiert, ausgeschöpft, wie man sich deren Normen und Zwängen entziehen, den Druck ab- und umleiten konnte, eine subversive Interpretation, die sich gegen die Macht des Faktischen richtete, Erzählungen also, die ein Einverständnis darüber herstellten, wie man was zu verstehen habe und wie man sich dagegen zur Wehr setzen könnte. Ein Geflüster der Generationen, in dem die Welt neu erfunden, neu gedeutet wurde. Erfahrungen wurden weitergegeben und revidiert. Aber es wurde nicht nur geredet. Es war ja kein Elfenbeinturm, diese Küche, die auch tagsüber nicht richtig hell wurde, in der immer eine Lampe brannte, der untere Teil der Wände lackiert, elfenbeinfarben, abwaschbar – wer aufstand und hinausging, hatte von fremden Erfahrungen gehört, konnte diese mit den eigenen vergleichen. Aber waren solche erzählten Erfahrungen übertragbar? Wurden Einsichten gewonnen? Fehler künftig vermieden? Vielleicht. Aber auf jeden Fall nahm man doch diese Einsicht mit: Man war nicht allein in seiner Not. Denn auch darauf bereiteten diese alltäglichen Erzählungen jeden der Zuhörer, der wiederum selbst Erzähler war, vor: auf Versagen, Schuldigwerden, auf Krankheit und Tod.Was wäre, wenn man plötzlich eine Menge Geld hätte?Ich will dieses Erzählen in der Küche von Tante Grete nicht verklären. Es war, wo es allgemeine Ansichten und Meinungen wiedergab, oft erstarrt, unreflektiert, zuweilen auch brutal und blind, und es war – meist dann, wenn es den eigenen primären Erfahrungsbereich verließ und allgemeine Urteile fällte – zuweilen auch einfach dumm. Dort aber, wo es sich aus den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen speiste – und das gilt auch heute noch, trotz Fernsehen und Videoclips –, war und ist solches Erzählen von einer subversiven Lust, einer aufklärerischen Helle, einer sinnlichen Fülle. Es beschäftigt sich ja auch immer damit, wie man sich selbst behaupten, wie man seine Träume und Wünsche verwirklichen kann. Auf dieser Suche nach der Erfüllung eigener Wünsche, die in irgendwelchen Zwängen eingeklemmt waren, kreisten die meisten der Erzählungen um Geld. Was wäre, wenn man plötzlich eine Menge Geld hätte? Wie kommt man an Geld? Allein durch Arbeit, das wusste jeder, nicht. Auch nicht durch Sparen. Man wäre darüber alt geworden, die Lust wäre vergangen und für immer verloren. Was hätte man auch sparen können? Wie kommt man an das große Geld? Durch Zufall, darum wurde Lotto und Toto gespielt. Durch Gewalt, darum nahm man sich, was man nehmen konnte, und viele Kisten gingen im Hafen beim Verladen zu Bruch. Durch List – und das war ein nicht endendes Thema in den Erzählungen –, wie jemand einem anderen, Reicheren, aber auch Firmen, Versicherungen, Behörden, Geld abgeknöpft hatte.Einmal gewann Tante Grete, die eine eigene Toto- Theorie entwickelt hatte, mehrere tausend Mark. Das war Anfang der Fünfzigerjahre eine riesige Summe, die sie allerdings innerhalb eines Jahres buchstäblich aus dem Fenster geworfen hatte. Sie verschenkte oder verlieh das Geld auf Nimmerwiedersehen über den Großen Trampgang hinweg. Mein Vater, der das Geld gern in sein Geschäft investiert hätte, fand das Verhalten von Tante Grete typisch, diese Unfähigkeit zu planen, zu sparen, überhaupt in die Zukunft zu denken. Sieh dir den Klaus an, der typische Versager. Es war zu der Zeit, als es plötzlich hieß, der Vater von Klaus käme zurück. Von diesem Mann wurde immer wieder und ausführlich erzählt, insbesondere von Klaus und seiner Mutter, meiner Cousine Klärchen. Nur sie kannte ihn. Ein Schwede, angeblich einsneunundneunzig groß, blond, blauäugig, mit der Brust eines ausgewachsenen Elchs, Verbieger daumendicker Eisenstangen und silberner Fünfmarkstücke, Steuermann auf einem Trampschiff, Held zahlloser Abenteuer zwischen Äquator und den beiden Polarkreisen, so erzählte Klaus von ihm, seinem Erzeuger, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Mit diesem Schweden drohte er nicht nur mir, sondern auch anderen Kindern, Lehrern – wenn mein Vater kommt, dann … Und mit diesem Mann, der irgendwo zwischen Afrika und Asien steckte, drohte auch meine Cousine ihren Liebhabern, weil die ihre Einsamkeit so schamlos ausnutzten und sie ins Bett zogen, sie drohte auch ihrem Vater, meinem Onkel Hans: Wenn der Stig kommt.Plötzlich begann der Schwede zu weinen Und jetzt also kam er tatsächlich und sollte Gericht halten. Ich machte mich auf den Weg in die Brüderstraße, getrieben von der Neugierde, die auch über die Bedenken siegte, selbst in das Gericht hineingezogen zu werden. In der Küche waren denn auch schon alle versammelt und warteten. Klärchen und Klaus waren in den Hafen gegangen, um ihn vom Schiff abzuholen. Onkel Hans hatte sich einen Schlips umgebunden, Tante Grete, im Sonntagskleid, hatte eine Pfirsichbowle angesetzt, eine Nachbarin hatte Pflaumenkuchen gebacken. Dann ging die Tür auf, Klaus und Klärchen kamen herein, und hinter ihnen kam der Schwede, tatsächlich ein Riese, sehnig, kräftig, blond und blauäugig. Er musste, als er in die Küche kam, den Kopf einziehen, gab allen die Hand, lächelte, sah keineswegs aus wie der Rächer, sondern setzte sich still an den Küchentisch und ließ sich ein Stück Pflaumenkuchen geben. Ich war enttäuscht. Der Mann saß da, aß und trank und schwieg. Vielleicht war er stumm. Gab es das, stumme Steuerleute? Irgendwann sagte er einmal tack, das war alles. Er saß da, trank erst Kaffee, dann Schnaps. Die Stimmung um ihn herum war inzwischen recht fidel geworden. Onkel Hans spielte auf dem Schifferklavier. Alle redeten durcheinander. Es wurde gelacht und gesungen. Tante Grete begann die Bowle auszuschenken, da, plötzlich, begann der Schwede zu weinen. Die Gespräche verstummten. Onkel Hans legte das aufseufzende Schifferklavier beiseite. Der Schwede saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und weinte. Alle starrten ihn an. Man erwartete irgendeinen Hinweis, eine Erklärung für seine Tränen. Er aber weinte, ohne etwas zu sagen, still vor sich hin. Jemand klopfte ihm auf den Rücken, als könne das seinen Schmerz lösen. Einige Nachbarn waren aufgestanden und leise hinausgegangen. Vom Großen Trampgang hörte man Schritte und Stimmen und von fern das Kreischen eines Eimerbaggers auf der Elbe. So plötzlich, wie er zu weinen begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Tante Grete kochte einen Kaffee. Er saß da, schweigend, und hielt die Kaffeetasse in den Händen.Am nächsten Tag ging er weg und kam nie wieder.Ich ging danach nur noch selten in die Brüderstraße. Das hatte nichts mit dem Schweden zu tun, sondern mit anderen Interessen und neuen Freunden. Auch meinen Cousin sah ich nur noch selten und zufällig. Er war auf das Gymnasium gekommen, aber bald wieder abgegangen, hatte die Mittelschule besucht, auch die nach kurzer Zeit wieder verlassen, hatte zwei, drei Lehren begonnen und wieder abgebrochen. Als ich ihn das letzte Mal traf, vor ziemlich genau zwanzig Jahren, zufällig auf der Straße, da erzählte er mir von seinen Plänen. Projekte, bei denen man schnell gutes Geld machen könne, zum Beispiel ein Versandhaus für exotische Vögel oder ein Männer-Striplokal. Ich hatte damals keine Zeit und auch kein Verständnis für seine Pläne, für diese Jagd nach Geld, ich war auf dem Weg zu einem Teach-in oder einer Diskussion. Er redete auf mich ein, fragte, ob ich immer noch Schriftsteller werden wolle, ob man vom Schreiben überhaupt leben könne. Im Weitergehen habe ich vielleicht darüber nachgedacht, wie leicht ihm das fiel, etwas abzubrechen, wozu er keine Lust mehr hatte, während ich, wie unter einem Zwang, alles zu Ende bringen musste.Cousin Klaus wurde von der Interpol gesuchtDann, vor einem Jahr, schickte mir meine Mutter einen Zeitungsausschnitt zu. 21 Millionen ergaunert, stand da, und daneben war ein Foto, das ihn zeigte, im dunklen Stoffmantel, Krawatte, blondes, leicht gewelltes Haar, ein blonder Schnurrbart. Er sah tatsächlich aus wie ein Börsianer, für den er sich ausgegeben hatte und der er wohl auch gewesen war. Er hatte Leute angesprochen (in einigen Fällen reichte ein Telefonanruf), von denen er annehmen konnte, dass sie unversteuerte Gelder anlegen wollten: Zahnärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Fabrikanten und sogar Bankiers. Sodann hat er, ein Magier, Schweinehälften, Wolle, Kupferbarren durch den einfachen Faktor Zeit in Geld verwandelt, eine geheimnisvolle Transfiguration, die allein durch seine auch von den ermittelnden Kriminalbeamten bewunderte Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, möglich wurde. Ich würde gern wissen, welche Geschichten das waren, möchte ihn aber selbst hören. Auf jeden Fall hat er mit seiner Art zu erzählen mehr verdient, als ich es mit meiner je könnte.Vertellt mol nix, sagte Tante Grete, als wir ihr, nachdem wir das Wechselgeld vom Einkaufen in Eis angelegt hatten, eine Räuberpistole erzählten, wie wir es verloren hätten.Jetzt wird er von der Interpol gesucht. Man gehe davon aus, so ein Polizeisprecher, dass sich der Gesuchte im Ausland aufhalte.Ich glaube zu wissen, wo er jetzt lebt. Ein Ort, von dem er schon als Kind erzählt hat.Und die Moral von der Geschichte? Die gibt es nicht. Die gab es auch in so gut wie keiner der Geschichten, die in Tante Gretes Küche erzählt wurden. Moral war das, was am wenigsten interessierte. Es waren ja Geschichten, die sich gegen die vorherrschende Moral richteten.Musste alles so kommen, wie es kam? Vielleicht, vielleicht auch nicht.Meine Cousine Anita, die andere Tochter von Tante Grete und Onkel Hans, ist bienenfleißig, zielstrebig, hat alle möglichen Prüfungen gemacht, geht, wie ich, auf Erbsen, solange etwas noch nicht fertig ist, und zwar ordentlich.Hin und wieder denke ich an Klaus, nicht nur jetzt, während ich über ihn schreibe. Ich versuche mir dann vorzustellen, wie er dort, wo er sich aufhält, lebt. Ich will nur so viel verraten: Es gibt dort Palmen und einen strahlenden Himmel.Erträgt er dieses ewige Blau? Hat er manchmal Sehnsucht nach dem Hamburger Grau? Oder nach Frau und Kind, die er dort zurückgelassen hat?Denke ich an ihn, habe ich den am Küchentisch sitzenden weinenden Schweden vor Augen.Diese Mühsal, dieser mich durch meine Kindheit begleitende Zwang: aufschieben zu müssen, was Lust macht, um im Aufschub Lust zu suchen. Die gezählte Zeit. Die erzählte Zeit. Das Geflüster der Generationen.© 2010 by Verlag Kiepenheuer Witsch GmbH Co. KG, Köln