Das Hörspielstudio 6 ist ein Komplex aus Regieraum, Aufnahmeraum und schalltotem Raum. Hier produziert Norbert Schaeffer für Deutschland Radio Berlin das Hörspiel Richards Füße; drei Teile à 70 Minuten, eine Geschichte von Vater und Sohn, von Liebe und Verrat in Zeiten des zweiten Weltkrieges.
Im Regieraum, den ich als erstes betrete, steht das Mischpult, das Herz des Studios. Es ist vier Meter breit; dahinter haben mindestens drei Leute Platz, also außer dem Techniker und dem Toningenieur noch der Regisseur. Der Blick fällt zuerst auf zwei moderne Flachbildschirme, die dazugehörigen Hardware-Türme stehen in Reichweite, unablässig dezent sirrend. Eine Glasscheibe trennt den tiefer gelegenen Aufnahmeraum ab, direkt unterhalb der Scheibe
r Scheibe steht ein weißer Tisch und viele Stühle. Regisseur Norbert Schaeffer sitzt da und redet auf Otto Sander ein. Was sie reden, ist hier oben nicht zu hören, solange die Doppeltür geschlossen ist und niemand auf den Knopf am Pult drückt.Nach einer geraumen Weile kommen die beiden nach oben, doch Schaeffer winkt ab, als ich frage, ob ich dazukommen darf. Erst nachdem die morgendliche Aufwärmphase vorbei ist, sitze ich mit am Tisch und höre, was Schaeffer den Schauspielern Ulrich Matthes und Otto Sander erzählt. Schwarzgekleidet und mit leicht gebeugten Schultern hat er mich von oben betrachtet an einen strengen Konzertmeister erinnert. Aber jetzt sitzt er ganz entspannt da, plaudert und lacht selbst am lautesten, "Stell dir das mal vor!!!"Richards Füße heißt unter anderem deshalb so, weil Richards Leiche nach einem Unfall nur anhand der Füße identifiziert werden konnte, die unversehrt in ganz speziellen Militärstiefeln steckten. Später wird klar, dass es gar nicht seine Füße waren, sondern die des Altnazis Schäfer. Mit Schäfers Papieren reist Richard dann durch das zerbombte Europa, auf der Flucht vor seiner ungeliebten Ehefrau Molly und seinem Sohn Jack. Dieser Sohn erzählt nun das phantastische Leben seines Vaters Richard Thurgo. Aber ist es wirklich Jack, der spricht? Vielleicht redet Richard seit 20 Jahren auch nur mit sich selbst, und Jack gibt es gar nicht ...Zehn Tage hat Schaeffer Zeit, die mehr als dreihundert Manuskriptseiten mit den Schauspielern umzusetzen. Alles ist bis ins kleinste Detail organisiert; es wird nicht von Anfang bis Ende durchgespielt, sondern abschnittsweise, je nachdem auch, wie die Schauspieler Zeit haben. Selbst Chöre und Gruppenszenen werden einzeln aufgenommen, was bedeutet, dass Schaeffer immer wieder den Zusammenhang herstellen muss: Was war vor dieser Szene in der Geschichte, wie geht`s weiter - er muss den Bogen, die große Entwicklung präsent halten.Das Manuskript ist der Ausgangspunkt, gibt die Konturen vor: Handlungsverläufe, Motive, Charaktere sind angelegt und werden jetzt, am weißen Tisch im Gespräch, aus der Sicht aller Beteiligter, getestet, austariert, erwogen. Besonders schnell und präzise vom Regisseur, der solange analysiert, bis die Figuren greifbar scheinen - also: sofort ausprobieren! Jetzt kommt es darauf an, dass die Schauspieler schnell assoziieren, improvisieren und immer wieder neue Varianten liefern können. Wie nebenbei bekommen die Dialoge "drive", durch kleine Änderungen im Text, durch andere Betonungen und Pausen. Figuren werden zu Charakteren: "Richard ist eigentlich zu doof, als dass man ihm das Politische anvertrauen könnte!" und Szenen werden vielschichtiger: "Es geht hier nicht nur um Jura, es geht natürlich auch um die Frauen!"Dann gibt Schaeffer - "Wir hören zu!" - das Signal zur Aufnahme. Der Sprecher ist allein vor dem Mikrofon. "Versuch mit der Stimme zart anzudeuten, dass er die Bombe grad anhebt!" Mit der Stimme! Nicht mit Körper, Gesicht oder Gestik, nur mit der Stimme, mit dem Atem, der Intonation, der Nähe zum Mikrofon. Anweisungen von Schaeffer sind selten, Unterbrechungen noch seltener. Wichtiger ist es, eine konzentrierte Atmosphäre herzustellen und die Dynamik von Versuchen, Wiederholungen und Durchsprechen nicht zu stören. Sander flucht nach jedem Versprecher, setzt sofort neu an, jedes Mal in einem anderen Tonfall. Ulrich Matthes schreit Fontanegedichte gegen die Ostsee und improvisiert summend von Jazz zu Bach und wieder zurück. Während der Aufnahme schweigt der Regieraum. Kritik äußert Schaeffer kaum, er bietet nur sehr freundlich Alternativen an: "Ich glaube, das Tempo ist niedriger." Bei gelungenen Sequenzen freut er sich jedes Mal wie ein Kind - anfangs noch allein, nach ein paar Tagen hat er den ganzen Regieraum angesteckt.Dann sind die Sprachaufnahmen vorbei und 18 Stunden Rohmaterial auf den Festplatten, inklusive Musik und Geräuschen von Nummer 1 bis 218. Jetzt werden akustische Räume eingerichtet, Musik ausgewählt und dazu gemischt, Geräusche gebastelt. Als erstes legt der Techniker die Szenen an, das heißt er sucht die Aufnahmen der Sprecher zusammen - da sie nicht gemeinsam aufgenommen wurden, sind sie auf der Festplatte verstreut. Dann wird "geputzt", das heißt unerwünschte Lacher, Atmer und Versprecher werden weggeschnitten. Allein dieser Vorgang dauert für eine Szene von fünf Seiten fast eine Stunde.Danach werden die Stimmen im Raum verteilt. Auf insgesamt 20 Spuren weist Schaeffer jeder Figur ihren Platz zwischen links außen und rechts außen zu - wenn sich die Zeitebenen überlagern, versetzt er sie in Bewegung. Der alte Richard, im Dialog vorne links zu hören, springt plötzlich in seine Vergangenheit und unterhält sich rechts mit der angebeteten Maggie. Oder es taucht plötzlich eine Erinnerung auf, zum Beispiel an Großvater O´Malley, der zuerst weit aus der Ferne zusammen mit Meeresrauschen zu hören ist, dann langsam in den Vordergrund rückt und die anderen Stimmen ablöst, bis er schließlich den ganzen Raum ausfüllt. Entscheidend ist, dass die Szenen in einer nachvollziehbaren Logik aufgebaut sind. Das kann heißen, dass die Stimmen während eines Gespräches im Auto der Sitzordnung entsprechend angeordnet werden. Das kann aber auch heißen, dass eine Autofahrt aus so vielen einzelnen Geräuschen zusammengestellt, mit Hall oder Echo und einigen Filtern versehen wird, bis sie gleichzeitig nach Krieg, erinnerter Geschichte und Berglandschaft klingt.Ich sitze allein im Aufnahmeraum und lausche: trockene Tangoschritte, dann Tangomusik. Eine Autofahrt, der Motor stottert, wieder die Schritte, dann Schüsse, eine Explosion... In dieser Minigeräuschcollage stecken die wichtigsten Stationen von Richards Geschichte, und ich erinnere mich genau, mit wie viel Geduld und Liebe zum Detail sie gebaut wurde. Die Geräusche mussten gebastelt, die Musik so angelegt werden, dass sie an genau dieser Stelle beginnt, der Höhepunkt außerdem gleichzeitig mit dem Geräusch zu hören ist und ihr Ende auch die Sequenz abschließt.Überhaupt sind die Geräusche erstaunlich. Mal irritieren sie im Hintergrund, streifen knapp die Grenze zum Wahrnehmbaren und zeugen von irgendetwas Unausgesprochenem, das nicht zu fassen ist. Was ist das für ein Rascheln, während Alec, Richards älterer Bruder, nervös dessen weitere Pläne erfahren will? Ein unkontrollierbares, leicht panisches Bewegen der Finger an Stoff entlang? Sehr oft erklingen die Geräusche vor einem Ereignis, das sie eben nicht ankündigen oder gar illustrieren, sondern ins Absurde vergrößern oder verzerren.Wenn die Geräusche wie feinziselierte Kleinode aus dem Labor klingen, dann erinnert die Inszenierung insgesamt an die Bilder von M. C. Escher. Es gibt keine überschaubare Anzahl an akustischen Settings, in denen sich die Handlung mit epischer Ruhe entwickelt. Stattdessen hört man viele kleinteilige akustische Räume, die gegeneinander gesetzt werden, die Perspektivwechsel der Erzählerposition markieren und damit die Frage nach dem Erzähler, also auch die Identität von Richard immer in der Schwebe halten. So wird unter Schaeffers Regie aus dem sehr soliden, fast behäbig erzählten Stoff ein abenteuerlich in die Irre führendes, temporeiches und sehr witziges Hörspiel.Alle drei Teile sind am Sonntag, 28. April, im Hackeschen Hoftheater, Rosenthaler Str. 40, in Berlin-Mitte zu hören. Beginn: 18 Uhr, Eintritt 5 bzw. 2,50 E
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