Politikwissenschaftler und ihre Branche sind zu allem fähig, aber zu nichts zu gebrauchen. Dieser seit Jahrzehnten gepflegte Spott müsste nach den jüngsten Ereignissen um die Bundesanstalt für Arbeit nun eigentlich verstummen. Denn der Skandal und seine vorläufige Bereinigung bestätigen mindestens drei Weisheiten, die jeder solide Politologe anzuwenden weiß.
Lektion 1: Man muss die Probleme auf die Spitze treiben, um schließlich zu einer Lösung zu kommen. Lange Jahre hatten Experten und fachkundige Praktiker in erstaunlicher Eintracht auf die Mängel der deutschen Arbeitsmarktpolitik hingewiesen - ohne nennenswerten Erfolg. Das "System Nürnberg" - noch vor zwei Jahrzehnten Pilgerziel europäischer Nachbarn, danach aber in Unbeweglic
beweglichkeit erstarrt - war lange Jahre durch kein Argument zu beeindrucken. Selbst der Arbeitsmarkt-Super-GAU, der dem Beitritt Ostdeutschlands folgte, schien zwischenzeitlich verdaut zu sein. Spät, sehr spät hat es die Bundesanstalt nun doch erwischt. Politischer und institutioneller Reformstau haben die dünne Flickendecke deutscher Arbeitsförderung gleich an mehreren Stellen aufgerissen. Obwohl es im Kern nur um eine staatliche Behörde geht, ist das augenblickliche Fiasko der Arbeitsverwaltung nicht ohne Brisanz. Heute rächt sich, dass Gewerkschaften und linke Politik all die Jahre konservative Reformvorschläge nur als neoliberalen Angriff bekämpften, aber nie den Mut zu praktischen Gegenentwürfen fanden. So wurde immer wieder der Status quo verteidigt, inklusive Nibelungentreue zu einer Anstalt, bei der sich nur zehn Prozent der Belegschaft tatsächlich mit Vermittlungsaufgaben beschäftigen. Ob in der augenblicklichen Hektik mehr herauskommt als billiger Populismus, ist auch mit dem Antritt des rheinland-pfälzischen Arbeitsministers Florian Gerster als neuem Chef der Bundesanstalt keinesfalls sicher. Zumal Gerster damit für die noch wichtigere Rolle als Nachfolger Walter Riesters ausscheidet, der wohl auch deshalb vor den Kameras ungewöhnlich locker wirkt. Immerhin gibt neben der Person Gerster auch die Tatsache Hoffnung, dass die einberufene Expertenkommission zur Neuorganisation der Bundesanstalt vom VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz geleitet wird. Wieder einer aus Schröders Autolobby, möchte man sagen. Voreilige Schlussfolgerungen sind jedoch unangebracht. Denn Hartz gehört als jahrelanger Chef der Saarstahl-Stiftung zu denen, die sich schon in den achtziger Jahren - damals im Interesse der von ARBED-Saarstahl Entlassenen - mit den Arbeitsämtern und ihren verstaubten Instrumenten erfolgreich geschlagen haben. Lektion 2: Große Institutionen mit politischer Verankerung sind chronisch reformresistent. L´État c´est moi! So kommt es bestenfalls zu Scheinaktivitäten, die nach außen als "Vermittlungsoffensiven" verkauft werden. Reformerischen Eifer wird auf internen Nebenkriegsschauplätzen wie "Arbeitsamt 2000" inszeniert. Wer sich mit einem derartigen Glauben an die eigene Unantastbarkeit nicht selbst an die Spitze politischer Reformen setzen kann und will, wird offenbar - und das ist nun wirklich neu - selbst in der Bundesrepublik kalt erwischt und darf sich am Ende nicht beschweren, wenn die Wellen donnernd über ihm zusammenbrechen. Dabei spielt es keine Rolle, dass - bei Lichte besehen - dabei der Bogen völlig überspannt wird und unter normalen Umständen keine Reform der gesamten Organisation rechtfertigen würde. Wer nimmt noch wahr, dass der Auslöser für das Erdbeben eigentlich nur eine fahrlässig entwickelte und nicht sachgemäß angewendete Statistiksoftware der Bundesanstalt war? Egal - der Stein rollt und ist nicht mehr aufzuhalten. Längst geht es um Fragen anderen Kalibers: Sollen, wie bereits 1998 intern debattiert, die Landesarbeitsämter aufgelöst werden? Mit welchen Befugnissen wird ein professioneller, nicht-beamteter Vorstand die Geschicke der Behörde leiten? Wann werden die traditionellen Selbstverwaltungsrituale entzaubert? Welche Leistungsanreize für die - bisher - gleichermaßen gängelnden wie gegängelten Mitarbeiter sollen eingeführt werden? Man darf gespannt sein, was nach der aktuellen Gedankenflut übrig bleiben wird. Lektion 3: Politik und Staat handeln nicht nur, aber immer auch im eigenen Interesse. In diesem Fall sogar mit ungewöhnlicher Frechheit: Nach jahrelangem Aussitzen von Problemen soll nicht nur die Organisation, sondern in einem Abwasch nun auch noch das Zahlenwerk bereinigt werden. Nichts spricht dagegen, die Aussagekraft der Arbeitslosenstatistik zu verbessern. Nur dieses hehre Interesse wird niemand den Herren Schröder und Riester abnehmen. Bereits im vergangenen Jahr ist ohne Aufsehen ein großer Teil der über 58-Jährigen aus der Statistik herausgerechnet worden, weil - und damit - sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Jetzt sollen auch diejenigen folgen, die angeblich nur zur Beibehaltung von Renten- und Kindergeldansprüchen in den Karteien stecken oder eine demnächst beginnende Arbeit bereits vertraglich sicher haben - nach Riesters Angaben insgesamt unglaubliche 30 Prozent der registrierten Arbeitslosen. Wer soll nach dieser schrägen Logik als nächstes folgen? Jugendliche, die nach Abschluss von Lehre oder Studium zwar keinen Anschlussjob, aber eben auch noch nie eine Kündigung erhalten haben? Aussiedler, die - frisch im Land - zunächst mal arbeitslos gemeldet sind? Personen, die selber kündigen und bereits damit ganz offen mangelndes Interesse an Arbeit demonstrieren? Man braucht nicht viel Phantasie, um das Bild zu entwerfen, das die Regierungsparteien gern hätten. Mit durchsichtigen Zahlentricks wird allerdings der Aufbruch gefährdet, den die deutsche Arbeitsmarktpolitik so dringend braucht.