Die Stadt spielt verrückt. Nach vielen Wochen Dunkelheit, Regen und Kälte durchflutet Sonnenlicht die Straßen. Die Strahlen des Zentralgestirns erwärmen Bordsteinkanten und Bänke. Ohne Erkältungsgefahr kann man sich auf ihnen niederlassen. Selbst die auf dem Trottoir aufgebauten Tische und Stühle des Gastronomiegewerbes verlieren rasch den Anflug von wochenlang unterkühlter Verzweiflung.
Doch was passiert vor den Augen der gelassen am Milchkaffee nippenden Kundschaft? Eben noch völlig beherrschte Menschen brechen aus unerklärlichen Gründen in Raserei aus. Die Polizei dreht durch und verfolgt mit Blaulicht einen Fahrradfahrer - nur weil er während der Fahrt mit dem Handy telefoniert hat. Vor der Apotheke beschimpfen sich wüst zwei Männer und gehen dann körperlich aufeinander los. Aus der Kneipe daneben wird ein älterer Herr mit buntem Regenschirm herausgeworfen. Wenige Minuten später taucht er vor unserer Kneipe auf. Er brabbelt vor sich hin, stellt sich dann in Positur und behauptet, der wiedererstandene Charly Chaplin zu sein. Deklamierend zieht er weiter. Kurz darauf fliegt die stadtbekannte Nachtigall von Ramersdorf ein und bringt aus schiefem Hals mit krächzender Stimme Töne hervor, wie man sie sonst nur von quietschenden Bettfedern kennt. Zum Glück klingelt das Telefon - eine gute Gelegenheit zum Ohrenschonen durch Weglaufen. Ich komme gerade dann zum Tisch zurück, als die Nachtigall den Obolus fürs Ständchen einzutreiben beginnt. Weil niemand von uns dem Folge leistet, verwandelt sich der Singvogel in ein gefiedertes Höllentier. "Ich wünsche euch alle Krankheiten an den Hals. Ihr verfluchten Ungetauften, die ihr nicht geben könnt. Krank werden sollt ihr zur Strafe!"
Die Verwünschung steht noch im Raum, als wieder das Telefon klingelt. Eine Beziehung ist zerbrochen. Wahrscheinlich den Wetterumschwung erahnend und Frühlingsgefühle verspürend suchte ein Mann in der vergangenen Nacht das Glück bei einer fremden Frau. Er kehrte erst am Mittag zu seiner Freundin zurück, die ihn daraufhin endgültig vor die Tür setzte. Neue Meldungen treffen in unserer provisorischen Unheilsammelstelle ein. Ein befreundetes Kollektiv leidet unter Auflösungserscheinungen.
Die Apokalypse im Kleinformat droht. Zum Glück wird es bald dunkel. Eine letzte Prügelei vor dem Imbiss. Dann sinkt die Temperatur unter 10 Grad. Die Gemüter kühlen sich ab. Die Raserei ist vorbei. Die Stadt hat ihre Frühlingsprobe verpatzt.
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