Das Ende des kommunistisch sich genannt habenden Imperiums liegt mehr als ein Jahrhundert zurück und die Zeit, in der Buchmessenbeobachter auf den Wenderoman gewartet haben, dürfte vorbei sein. Bevor die Legenden in die Schulbücher eingehen und eine deutsche Revolution sich von Politikerreden bis ins Selbstverständnis der Nachgeborenen fortpflanzt, lohnt ein Blick zurück, geleitet von György Dalos, der diese Art der Vergangenheitsbewältigung für ein paar Korrekturen der Erinnerung nutzt.
Der 1943 in Budapest geborene Schriftsteller beschreibt in seinem realistischen Roman Seilschaften den Weg von Ost- nach Mitteleuropa in der Hauptsache entlang der Route Budapest-München, die kein Nebenweg war. Bekanntlich oder eben kaum mehr bekannt, haben nich
kannt, haben nicht die Deutschen, sondern die Ungarn den eisernen Vorhang aufgemacht. Man kann bei der Lektüre jenen Gestalten ins Gesicht schauen, die in eine neue Welt aufgebrochen und in der Banalität der westlichen Konsumgesellschaft mit mehr und mit weniger Erfolg stecken geblieben sind. Dalos zeichnet die Dissidenten aus Osteuropa als Ritter von der traurigen Gestalt. Einst waren sie romantische Berichterstatter aus einer anderen Welt und wir Westler liebten es, an den Küchentischen Osteuropas diese nächtelangen Diskussionen zu führen, als es sie bei uns nicht mehr gab, weil es um nichts mehr ging. Nach ´89 mussten sie mit der Zeitverschiebung fertig werden, damit, dass sie kurz als Heroen gefeiert und dann von der Geschichte an den Rand gedrängt wurden. Dalos blickt zurück - nicht im Zorn, nicht nostalgisch, aber auch nicht wie einer, für den die Geschichte all diese Geschichten und Biographien bereits erledigt hat. Sein Held Tamas Cohen hat sein Geld einige Zeit lang bei Radio Free Europe verdient, diesem Sender des Kalten Krieges. Er wird eingeführt als depressiver Loser mit abstehenden Ohren, ohne Geld und ohne Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter. Cohen ist, wie der Name schon sagt, Jude, und das gibt dem Roman noch ein paar zusätzliche Prisen bitterböser Ironie. Es ermöglicht dem Autor (der meines Wissens keine abstehenden Ohren hat), den offenen Antisemitismus der ungarischen neuen Demokratie und den verdeckten des ungarischen Realsozialismus zu thematisieren. Der ungarische Blickwinkel verrückt nicht nur die germanozentrische Geschichtsschreibung, Dalos kann in seinen Erzählungen über diese einst "lustigste Baracke" des Ostblocks auch Themen unterbringen, die im Reden über die ehemalige DDR eher tabu sind - etwa die Nebenzwecke, die zur Parteimitgliedschaft oder auch Zugehörigkeit zu Dissidentenkreisen führten und sich nicht eindeutig als gut oder böse, korrupt oder moralisch definieren lasen, weil die Geschichten, die das Leben schreibt, selten eindeutig sind.Tamas Cohen hatte sich als Dolmetscher und Rundfunkjournalist durchs Leben im Gastland geschlagen und war endlich integriert - als depressiver deutscher Arbeitsloser ohne Perspektive. Er kommt vom Zahnarzt nach Hause und hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter - Ranky-Wallenstein - ein reicher Mogul von ungarischem Adel, also nicht Soros, also kein "reicher Jude", will ihn sprechen. Ranky-Wallenstein stellt Cohen zuerst als Ghostwriter an, um seine Biographie zu schreiben und zu beschönigen - die Gegenüberstellung von erzähltem und bearbeitetem Leben dieses Magnaten, der Franz Joseph Strauß seinen alten Kumpel nennt, gehört zu den schönsten Passagen des Romans und erlaubt dem Autor, von den ungarischen Faschisten des Horthy-Regimes bis zu Ludwig Erhard und diversen Waffengeschäften frei von jedem Respekt ein paar Lektionen einzubauen, die Anhängern politischer Korrektheit erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält. Deshalb sind die Seilschaften auch nicht wirklich ein Roman, sondern ein romanesker Essay, in dem ein ehemaliger ungarischer Dissident mit sich und den ehemaligen Weggenossen über Naivität und Resteverwertung räsoniert.Die Handlung wird vorangetrieben von 900.000 DM, die der Mogul dem Umschreiber seines Lebens hinterläßt, das ist eher eine Metapher als eine Romanhandlung, das Umschreiben der Biographie hat einen Preis, den der ehemalige Waffenhändler in bar und der Ghostwriter mit Zynismus bezahlt. Das Geld muss, so die Bedingung des Testaments, von Cohen verwaltet und "ausschließlich in Bayern zur Popularisierung der ungarischen Kultur und Tradition verwendet werden". Das schöne Geld ist Anlass und Vorwand für Cohen, nach all den Jahren nun doch nach Budapest zurückzukehren. Freunde und Feinde, Vereins- und Parteivorsitzende, ehemalige Dissidenten und ehemals Parteitreue aus dem gesamten Farbenspektrum des postkommunistischen Ungarn wollen "natürlich" (denn diese Natur des Menschen ist das Thema des desillusionierten Protokollanten) von dem Kuchen etwas abhaben; reichlich Stoff für Satiren über deutsche und ungarische Projektemacherei ("als erstes beauftragen wir eine GmbH, ein Planungsbüro einzurichten" - daraus wird dann das "Projekt Händedruck", ein deutsch-ungarisches Joint-Venture-Unternemen, bei dem man notgedrungen die sozialistische Ikone mit den verschränkten Händen vor Augen hat).Gewendete Dissidenten und ehemals alternative (westdeutsche) Kulturorganisatoren bevölkern die menschliche Komödie, die als Farce auftritt. Cohen ist ein liebenswerter Chaot, dem das Leben eher passiert, als dass er es selbst lebt. Die Damen - eine hübsche junge jüdische Ungarin, eine kluge Münchner Feministin und die menschelnde Sekretärin - sind der eher aus der Theorie als dem Leben gegriffene Versuch, das Problem des verunsicherten Mannes auf die Schippe zu nehmen. Seine Sparringpartner sind linientreue Kommunisten, wie der senile, durchaus liebenswerte Onkel, der Tamas Flucht als persönliche Kränkung genommen hatte, er krankt also auch an seinem Glauben oder der Jugendfreund, Pallfy, vor vielen Jahren war Tamas eine Scheinehe mit dessen rumänischer Freundin eingegangen, um sie aus dem Land Ceaucescus herauszuholen. Dabei ist - natürlich unbeabsichtigt - ein Kind entstanden, das die Frau dem zweiten Mann, also Pallfy untergejubelt hat. Ihren Kummer hat sie später im Alkohol ersäuft und der Mitkämpfer aus Dissidentenzeiten ist inzwischen Nationalist. So ungeordnet waren die Verhältnisse schon, bevor die Beliebigkeit von Konsumgütern und Weltanschauungen auch im Osten Einzug hielt.Mit vielen internen Informationen über Ungarn und nicht zuletzt Rumänien ist es trotzdem keine ungarische Geschichte, eher eine Geschichte über die ausgestorbene Spezies der Dissidenten und Weltverbesserer und deren allmähliche Verwandlung unter dem Druck der realen Verhältnisse. Dalos blickt zurück, nicht im Zorn, er denunziert die Träume nicht, die seine Generation umgetrieben hatten und die im neuen Kontext nur noch absurd wirken. Der Leser hat eher das Gefühl, dass er sich ständig an den Kopf schlägt, mit einer Geste, in der die Frage steckt: Wie haben wir nur so blöd sein können.Was die Lektüre vor allem für alternde Ex-Linke so köstlich macht, ist nicht nur der bitterböse Plot, es ist der Umgang mit der Enttäuschung, ein Jonglieren mit Weltanschauungen, moralischen Bekenntnissen, die wie Bälle auf den Tellern des Jongleurs herumrollen. Dabei werden zwar sämtliche ideologischen oder moralischen Bekenntnisse auf die Füße ihrer (mal materiellen, mal erotomanen) Zwecke gestellt und das Pathos der Dissidenten zerbröselt, aber Dalos hält die Balance, er stürzt nicht in postmoderne Beliebigkeit ab, sie ist eher sein Subthema: Das Buch lässt sich auch als Übung im Umgang mit den vielen unentscheidbaren Möglichkeiten lesen, insofern ist es eben doch kein Blick zurück, sondern einer nach vorn. Das Jahrhundert der Ambivalenzen hat, frei nach Dalos, bereits begonnen, als die Dissidenten noch dachten, es gäbe eine eindeutige Richtung. In dem scheinbaren Bruch steckt mehr Kontinuität, als Ex-Sozialisten und Neoliberalen lieb sein kann.Ironisch oder doch eher sarkastisch? Offen bleibt, ob Pallfy, der alte Freund und Ex-Mann der Mutter seines Sohnes, ein Spitzel war und was aus dem von Lügen und Drogen verdorbenen Sohn wird. Die Kinder fechten´s nicht besser aus, kein Happy End, keine Moral, keine summary. Nach vielen Intrigen und Enthüllungen kommt das "Projekt Händedruck" zum wohlverdienten schlechten Ende. Die überdimensionale heimatverbundene Torte befördert den zuckerkranken Exfreund und Vorsitzenden des Projekts Händedruck ins Koma. Das klingt nach Kalauer, nur ist für den schlechten Witz nicht der Autor verantwortlich zu machen, es ist die Kalauerhaftigkeit der Wirklichkeit, die Kritik provoziert. Und aus dem Koma kann ein Patient unter günstigen Umständen auch wieder aufwachen.György Dalos: Seilschaften. Roman. Aus dem Ungarischen von dem Autor und Elsbeth Zylla. Dumont. Köln 2002, 359 S., 22,90 EUR
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