Vor über 50 Jahren erschien Herbert Lüthys Klassiker Frankreichs Uhren gehen anders (1954). Das kann man heute nicht mehr sagen, denn Frankreichs Uhren gehen vor allem nach. Eine Gruppe von ehemaligen Ministern aus der Ära Mitterrand - sie nennen sich nach römischen Adligen, die einst für landlose Bauern Partei ergriffen, "die Gracchen" - präsentierte in der Le Monde vom 14. September ein Manifest für eine moderne Linke. Zu den "Gracchen" gehören Michel Rocard und Lionel Jospin, aber auch Walter Veltroni, der Bürgermeister von Rom, sowie Anthony Giddens, einer der Paten des "Dritten Weges". Sie alle hatten bereits in den französischen Wahlkampf eingegriffen, als sie der sozialistischen Bewerberin Ségolène Royal empfahlen, zusammen
oyal empfahlen, zusammen mit dem Liberalen François Bayrou eine Wahlplattform zu bilden. Das richtete sich klar gegen das Parteizentrum um François Hollande wie die Parteilinke um Laurent Fabius und Henri Emmanueli.Bereits dieser Vorstoß hatte sich am Blair-Schröder-Papier vom 8. Juni 1999 orientiert, das seinerzeit Peter Mandelson und Bodo Hombach aushandelten und das vom damaligen Frankreich-Premier Jospin aus guten Gründen nicht unterschrieben wurde, um einer Isolierung in der eigenen Partei zu entgehen. Nun freilich gehört Jospin zu den Mitautoren des "Manifests", das über weite Strecken aufwärmt, was Blair/Mandelson und Schröder/Hombach vor acht Jahren hoch kochten. Insofern gehen die Uhren, wenn nicht Frankreichs, so doch jene der französischen Sozialisten nach.Das Blair-Schröder-Papier trug den Titel Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten und zeichnete sich durch "ein ungewöhnliches Maß an Undeutlichkeit" und "viele Plattitüden" (Arno Klönne) aus. Kernpunkt des Papiers war sozialdemokratische Selbstkritik der Art: "Die Schwäche der Märkte wurde über-, ihre Stärke unterschätzt." Diese Kasteiung mündete geradewegs in das Hartz´sche "Reformwerk", die von Schröder angestoßenen Privatisierungen, Deregulierungen und Steuergeschenke an die Unternehmer. Die Quittung für die Demontage des Sozialstaats auf kapitalistischer Basis, wie ihn das Godesberger Programm (1959) definierte, wurde der SPD inzwischen zugestellt: Die Wähler laufen scharenweise weg und teilweise zur LINKEN über. Mit dem jüngst von Steinbrück, Steinmeier und Platzeck vorgestellten Buch ratifizieren Parteigranden ihren endgültigen Abschied vom Ziel eines demokratischen Sozialismus und richten sich ein im juste Milieu der "sozialen Demokratie".Mit einiger Verspätung predigen "die Gracchen" nun dem Parti Socialiste (PS) den Großen Abmarsch in die gleiche Sackgasse: "Die Linke muss klar sagen, dass die Marktwirtschaft eine gute Sache ist, auch wenn Markt und Marktwerte nicht alles bestimmen dürfen", schreiben sie in Le Monde. "Die Linke muss laut und deutlich sagen, dass die Globalisierung ein Fortschritt ist." "Die Linke fördert die freie Zirkulation von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Personen." Gleichzeitig soll aber die Regierung dafür sorgen, dass die Arbeitenden die Kosten dafür nicht allein tragen. Wie sie das bewerkstelligen soll, sagen "die Gracchen" nicht, sondern kritisieren den "Konservatismus der Linken" und deren Staatsverständnis, wonach immer nur "reglementiert, nationalisiert, besteuert und ausgegeben" werde.Sie empfehlen, "die Maschine zum Laufen zu bringen, die gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum und sozialen Fortschritt hervorbringt". Die "Linke" müsse sich dazu in alle Richtungen strecken, um ihre Modernität unter Beweis zu stellen, müsse liberal, arbeiterorientiert, umverteilend, regulierend, ökologisch, europäisch, internationalistisch, moralisch, realistisch und fortschrittlich zugleich sein. Ein solches Profil mutet jeder Partei die Zerreißprobe in Permanenz zu.Das Manifest für eine moderne Linke begräbt unter sich eine Zeitungsseite und enthält auch manch erwägenswerten Gedanken - etwa zum fatalen Chancengefälle im Bildungswesen oder zum asozialen Erbrecht. Insgesamt jedoch atmet es den gleichen Geist der Großspurigkeit wie das Blair-Schröder-Papier. Es richtet sich zwar mit gewissem Recht gegen einen linken Traditionalismus, der in Staatsgläubigkeit, Zentralismus und politische Klüngelwirtschaft mündet, verstrickt sich aber zugleich in Widersprüche. Sie belegen eben solche Befangenheit in "altem Denken", wie sie "die Gracchen" ihren Parteigenossen vorwerfen. Im Namen der Dreifaltigkeit von wissenschaftlichem, technologischem und wirtschaftlichem Fortschritt glauben sie ernsthaft an "die Vollbeschäftigung", die obendrein mit ökologischen Geboten und dem "Recht auf Entwicklung" aller Zivilisationen vereinbar sei. Diese politische Leerstelle im "Gracchen-Traktat" reimt sich schlecht auf den pathetischen Schluss des Textes, der von "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" und vom "säkularen Pakt zwischen dem Vorbild Frankreich und dem Fortschritt der Welt" handelt. Angesichts der Dürftigkeit des Papiers möchte man fragen: Ginge es auch ein wenig bescheidener?