Ich kenne einen Gutmenschen und bin stolz darauf! Aber meine Freunde sagen, gute Menschen gäbe es nicht, und Gutmenschen seien Heuchler. Ich widerspreche: ein Heuchler ist Bernhard nicht. Aber jetzt frage ich mich natürlich, was ein Gutmensch ist, und wie gut einer sein kann in einer so wenig guten Welt.
Bernhard ist Psychiater (aber das ist noch kein Kriterium). Geboren wurde er in Plauen im Vogtland, 1985 kam er per Ausreiseantrag mit Frau und Sohn in den Westen und landete nach langer Stellensuche in München. Hier zerbrach seine Ehe, und weil Bernhard das lange nicht wahrhaben wollte, lebte er provisorisch unter dem Dach eines verlotterten Altbaus in Neuhausen. Er war bereits Oberarzt der Psychiatrischen Klinik Ahornstraße, lebte jedoch wie ein Student zwischen anges
Bernhard kann nicht anders
Ost-West-Verhältnis Seltsame Geschichten eines Psychiaters, der von Ost nach West nach Osten ging
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en angeschlagenen Billy-Regalen und abgestoßenen Ledermöbeln. Einen Teil seines Gehalts schickte er nach Berlin an seine Familie, von der er immer noch hoffte, sie kehre eines Tages zu ihm zurück. Immerhin lebte er nicht ganz allein: Er hatte einen Plauener Schulfreund bei sich aufgenommen, einen versprengten, nach der Wende verarmten Dichter, von dem er nicht mal Miete nahm (Gutmenschen sind wohltätig). Über ihn, unseren gemeinsamen Freund Karl, lernte ich ihn kennen. Bernhard war damals fünfundvierzig, wirkte aber wesentlich jünger, trotz seines grauen Stoppelhaars. Er hatte ein jungenhaftes, faltenloses Gesicht und den Körper eines Sportlers: breitschultrig, schmalhüftig, muskulös. Er trainierte jeden Morgen im engen Bad mit Hanteln. Er ging früh um acht aus dem Haus, kam abends um sieben zurück und hatte nachts und am Wochenende oft Rufbereitschaft. Gutmenschen arbeiten bis zur Erschöpfung, aber sie sind dann auch erschöpft, schließlich sind sie Menschen. Wenn Bernhard keine Rufbereitschaft hatte, trank er mehrere Dosen Bier, um sich zu entspannen. Gegen elf fiel er ins Bett. Bevor er ins Bett fiel, erzählte er von seiner Arbeit. "Es ist nie langweilig," sagte er, "aber man braucht einen langen Atem. Man muss in einer realen Biographie die Struktur der Psychose erkennen. Oft mischen sich auf verblüffende Weise Wahn und Wirklichkeit." Ein Patient hält sich für Jesus, antwortet aber auf die Frage nach seiner Ausbildung beflissen: "Mittlere Reife!" Der zweite redet mit seinem Knie ("Aber verraten Sie´s niemandem!"), und der dritte, der eigentlich gerade die EKO-Werke übernehmen wollte, lässt sich nur deshalb behandeln, weil EKO keinen Schiffsstahl herstellt. Viele wirken nach der Einweisung erleichtert und sogar irgendwie dankbar, bis einer sich plötzlich wortlos mit der Nagelschere die Fingernägel aus dem Fleisch schnitzt, weil er Käferchen darunter sieht. Psychiatrie-Geschichten klingen für Außenstehende oft kurz, drastisch und ungeheuerlich, ihr Kennzeichen ist weitgehende Uneinfühlbarkeit. Bernhard verbot uns, darüber zu lachen. Wir haben ihn nie zynisch oder spöttisch über Patienten reden hören. (Gutmenschen sind verständnisvoll.) Bernhard, ein weiteres Kriterium des Gutmenschen, ist bescheiden. Er hat großen Mut und weicht keinem Kampf aus, aber er brüstet sich dessen nicht. Freund Karl erzählt, wie Bernhard einmal in einem zertrümmerten Lokal einem tobenden Psychotiker gegenübertrat, während die Feuerwehr sich hinterm Tresen versteckte. Bernhard selbst erzählt eher von Niederlagen: Einmal schlug ihm ein paranoider Kameruner ein blaues Auge, ein andermal drückte ihn ein drei Zentner schwerer Depressiver zu Boden. Ebenfalls vergeblich hat Bernhard einmal eine Frau zu retten versucht, die von ihrem Mann verdroschen wurde. Das war auch noch in seiner Freizeit, bei einem Spaziergang auf der Praterinsel. Der Mann stieß diese Frau mehrmals gegen einem Brückenpfeiler, ihr Kopf war bereits blutig; aber als Bernhard eingriff, ging sie wie eine Furie auf ihn los und schrie, wie er es wagen könne, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen, er solle sich gefälligst schicken, sonst riefe sie die Polizei. Bernhard war äußerst überrascht. (Ist auch Einfalt ein Merkmal des Gutmenschen? Ich weiß nur: Würde ich selbst jemals so handeln, was undenkbar ist, ich wäre auf mich stolz.) Bernhard fühlt sich immer im Dienst. Eine junge Patientin rief ihn regelmäßig zu Hause an, und nur selten wimmelte er sie ab. Die Frau erklärte stundenlang mit gehetzter Stimme, warum sie sich lahm lege; ich selbst hatte sie einmal am Apparat und bekam rasch zu viel: "Ich weiß, ich muss zur Krisenintervention, aber wenn ich geschminkt komme, sagen die, so schlecht kann´s mir nicht gehen. Ungeschminkt kann ich aber nicht aus dem Haus, denn nur geschminkt bin ich ich selbst, ohne das bin ich nackt und weiß nicht, wer ich bin. Mit Schminke weiß ich´s natürlich auch nicht, das sind alles nur Masken, aber sie schützen mich. Wenn ich ungeschützt aus dem Haus könnte, bräuchte ich ja keine Krisenintervention!" So argumentierte sie stundenlang im Kreis, aber sie brauchte einen Zeugen, der ihre Ohnmacht teilte, und das war Bernhard. Er konnte nichts tun, außer ihr seine Zeit zu opfern. (Gutmenschen sind geduldig.) Die Frau hatte mit siebenundzwanzig schon vier Selbstmordversuche hinter sich. Beim letzten Versuch lag sie zwei Tage lang auf der Seite, der rechte Arm starb ab, er war jetzt gelähmt. "Dabei kann sie unglaublich charmant sein," lächelt Bernhard, "geradezu unwiderstehlich. Sie legt uns andauernd rein: hält sich nicht an Verabredungen, bricht Therapien ab und will dann mit Riesenaufwand gerettet werden. Wir nehmen uns vor, hart zu bleiben, aber sie kriegt uns immer wieder rum. Sie kriegt alle rum. Einmal hat sie acht schwer sedierte, erloschene Männer derart entflammt, dass es eine Massenschlägerei gab; zwei Siebzigjährige ohrfeigten einander, dass einem das Gebiss in der Wange stecken blieb. Er musste operiert werden ..." Natürlich steckt Bernhard voller Widersprüche (ein Gutmensch zeichnet sich durch das aus, was er tut, nicht durch das, was er ist). Bernhard verweigert gegrilltes Fleisch oder Schimmelkäse mit der Begründung: "Das ist kanzerogen!", während er eine Marlboro nach der anderen zieht. Kompliziert ist auch sein Verhältnis zu Frauen. Ich bin nicht sicher, ob er sie mag. Er behandelt sie rücksichtsvoll, aber wenn sie sich verlieben (sie tun das oft), zieht er sich zurück. Bei manchen von diesen Frauen schlägt die Liebe in Hass um, dann hat er immer ein schlechtes Gewissen. Aber wenn er die nächste Frau trifft, wird er wieder genauso nett und rücksichtsvoll sein. Er träumt von seiner Traumfrau, aber als er sie hatte, konnte er sich mit ihr nicht einigen. Seine Traumfamilie opferte er einer endlosen Serie unbezahlter Überstunden. Bernhard war schon als Junge moralisch. Er trat nicht der FDJ bei, weil er fand, man müsse Zwang widerstehen. Er weigerte sich, an der Schießausbildung teilzunehmen. Er verweigerte die Ausbildung zum Reserveoffizier, obwohl ihn das beinah den Studienplatz gekostet hätte. Als er den Ausreiseantrag stellte, musste er sich von einer Beamtin den Vorwurf anhören, er habe der DDR die Ausbildung geklaut. Das ging ihm nahe. Von der Wende war er begeistert. Er genoss sie aus vollem Herzen, während sein Psychiaterblick in die Zukunft sah. Er registrierte das Zurückgehen der Depressionen während der Wendezeit und sagte: "Das ist der Hoffnungsrausch. In etwa einem Jahr kommt der Kater", und dann tranken wir eine Flasche Sekt auf das hoffnungsfrohe Jahr. Gutmensch wird man nicht durch Vorsatz. Bernhard würde sich auch nie so bezeichnen. Er wundert sich, dass wir uns wundern. Er findet, er lebt einfach vor sich hin. Hat er ein Helfersyndrom? Hilft er anderen, um sich selbst zu helfen? Hier zuckt er nur die Achseln. Jeder versucht sich selbst zu helfen, warum also nicht so? - Weil es eine Illusion ist!, hatte ich gelesen. Der Helfer wünscht insgeheim als Gegenleistung eine entsprechende Betreuung, kriegt sie aber nie. Nach einer Weile brennt er aus. Bernhard meinte: "Warum soll ich nicht brennen, während meine Zeit abläuft? Da ist mir doch wenigstens warm!" Ein Gutmensch tut Gutes, aber wer weiß schon immer, was gut ist? Einmal schnitt Bernhard eine Frau vom Strick, die sich in der Krankenhaustoilette erhängt hatte, und machte eine so heftige Herzmassage, dass ihr sechs Rippen brachen. Immerhin kam sie zurück. Die Rippen heilten, aber das Hirn war kollabiert. Während seiner nächsten sechs Jahre in der Ahornstraße musste Bernhard täglich an ihrer Station vorbei, wo sie in einem Rollstuhl hing und ihm schwachsinnig zu grinste; er weiß nicht, ob sie wusste. Hat er ihr einen Gefallen getan? "Das ist eine unangemessene Frage", findet er. "Es ist nicht unsere Sache, zu entscheiden, wer gerettet werden soll." - "Ja, aber würdest du das denn als Rettung bezeichnen?" Bernhard brütete mit sichtlichem Unbehagen über dieser Frage und verwarf sie dann. Vollkommen klar war, dass er in jedem vergleichbaren Fall wieder so handeln würde. Er kann nicht anders. Bernhard ging selten auf Partys (Gutmenschen arbeiten viel). Ein einziges Mal habe ich erlebt, dass er doch ging, unlustig und seufzend; aber er kehrte aufgekratzt zurück. Er hatte sich den ganzen Abend mit einem Arztkollegen unterhalten, der mehrere private Suchtkliniken betrieb - einem Erfolgsmenschen mit Erfolgsaura. Bernhard, der immer in Blue Jeans und T-Shirts herumläuft, beschrieb fast andächtig Seidenkrawatte, Boss-Anzug und Breitling-Chronometer. "Er besitzt eine Klinik im Allgäu, eine in der Holsteinischen Schweiz und eine in der Eifel!" erzählte er. "Er nennt sie Südklinik, Nordklinik und Westklinik. Er plant jetzt eine Ostklinik im Spreewald. Er fliegt im Hubschrauber von Klinik zu Klinik! Er sagt, Omnipräsenz sei das A und O! Früher sei er mit dem Privatflugzeug geflogen, aber es gebe nicht genug Flugplätze. Immerhin gebe es mehr Flugplätze als Bahnhöfe!" Realitätsverlust? Ein Psychopath?, überlegten wir und erhielten eine Vermahnung, dass dieser Ausdruck, weil ungenau und diskriminierend, heute in Fachkreisen verpönt sei. Kurz darauf teilte Bernhard mit, dass "Professor Holt" ihn angeworben hatte. Bernhard sollte Oberarzt der so genannten Süd-Klinik werden, mit der Option auf Beförderung zum Chefarzt im nächsten Jahr. Anderthalb mal so viel Gehalt wie in der Ahornstraße. Ein neues Publikum - reiche Alkoholiker vor allem -, die Heilungsquote betrage unglaubliche 70 Prozent. Das sei doch viel optimistischer als in den Landeskliniken, sagte Bernhard, zum ersten Mal nicht lächelnd, sondern strahlend. Bernhard lebte inzwischen zwölf Jahre in München. Er mochte seinen Münchner Chef, sie waren einander in Hochachtung und Loyalität verbunden, aber der Chef war alt und müde und würde demnächst in Pension gehen. Bernhard selbst war müde. Sein neuer Chef war kreativ, energisch, brillant. Bernhard, der sich nie um seinen Erfolg gekümmert hatte, gab ohne weiteres zu, dass Erfolg ihn beeindruckt. Er, der jahrelang auf studentischem Level gelebt hatte, ohne etwas zu vermissen, hielt plötzlich Reichtum für erstrebenswert. (Unfehlbarkeit ist kein Gutmenschen-Kriterium.) Die Zeit im Allgäu wurde eine Katastrophe. Nach drei Monaten hatte Bernhard zum ersten Mal auf seinen Gehaltzettel geblickt und bemerkt, dass dort ein Drittel weniger Lohn stand als versprochen. Er hatte nicht daran gedacht, sich einen schriftlichen Vertrag geben zu lassen. Einen Tag darauf, während er noch überlegte, wie er reagieren sollte, lud Holt ihn zu einem München-Ausflug ein. Sie fuhren im Ferrari zu einem Orientteppichsalon, wo sie, auf einem Diwan sitzend, mit Tee in geschwungenen Gläsern bewirtet wurden, während türkische Jünglinge vor ihnen eine Seidenbrücke nach der anderen entrollten. Schließlich kaufte Holt eine Seidenbrücke für 15.000 Mark "zum vierten Hochzeitstag meiner Frau" und lud Bernhard in den "Bayerischen Hof" ein, wo er ihm erzählte, dass er sich vom Kollegen Y. trennen müsse, der auf einmal mehr Geld wolle. Als ich die Geschichte erfuhr, rief ich Bernhard sofort an: "Schreib Holt einen Brief: Offenbar hat sich Ihr Buchhalter geirrt; wir hatten als Gehalt per Handschlag DM soundsoviel vereinbart! Dann muss Holt binnen zwei Wochen schriftlich reagieren. Schweigt er, hat er akzeptiert; widerspricht er schriftlich, weißt du, dass er ein Lügner ist, und kannst Konsequenzen ziehen." "Er ist, glaube ich, selber knapp bei Kasse", murmelte Bernhard. "Er richtet gerade die vierte Klinik ein ..." Er nahm den in Schutz! Ich hatte jahrelang am Theater gearbeitet, wo ähnliche Praktiken gang und gäbe sind, obwohl die Chefs dort nicht mal ihr eigenes Geld verwalten; anscheinend ist es ein unüberwindliches Bedürfnis der Menschen, andere zu belügen und auszunutzen. "Nur der Machtmenschen", korrigierte Bernhard. "Sonst wären sie ja nicht mächtig geworden." (Ein bedeutendes Merkmal des Gutmenschen ist Gerechtigkeit.) Ich redete auf ihn ein; ich wollte ihn retten, so wie er die zappelnden Selbstmörder vom Strick rettete. Er hörte geduldig zu und brummte beruhigend mit seiner tiefen Psychiaterstimme. Er lässt sich von einem geltungssüchtigen Betrüger blenden, dachte ich. Er weiß über andere alles und über sich selber nichts! Natürlich ist das nicht so erstaunlich, wie es zunächst klingt. Bernhard selbst hat sich gelegentlich über die Blindheit seiner Kollegen amüsiert. Eine fünfzigjährige Psychologin zum Beispiel hatte immer blaue Lippen und klagte über Müdigkeit, sie fing an, in Therapiestunden zu gähnen. Zerknirscht analysierte sie, warum sie gähne, bei welchem Patienten und an welcher Stelle des Dialogs. Dann brach sie mit Herzmuskelentzündung zusammen. Das ist kein Einzelfall. Wir Autoren, deren geschulte literarische Urteilskraft angesichts des eigenen Werks regelmäßig erlischt, dürfen das nicht belächeln. Einige Monate später telefonierten wir wieder. Bernhard war inzwischen ernüchtert. Er traute sich aber nicht, auf den Tisch zu hauen, denn er hatte herausgefunden, dass es Ärzten in anderen Privatkliniken noch schlechter geht. Manche bekommen nur Zeitverträge, andere sogar Stundenlohn wie Hilfskräfte, sie müssen massenhaft Überstunden und Nachtdienste schieben und verdienen bisweilen weniger als die Hausmeister. Wer sich beschwert, wird gefeuert. Bernhard hatte immerhin seinen festen Vertrag. Er war froh, aus München weg zu sein. Er hatte eine moderne, helle Wohnung, ein flottes Auto, Natur rund herum, weniger Dienst, weniger Patienten, mehr Licht. Nächstes Jahr sollte er Chefarzt werden, er hatte schon einen Vorvertrag. Drei Tage nach diesem Telefongespräch kündigte Bernhard fristlos. In Stichworten: Verleumdungen, Intrigen, eine unangemessene Rüge von Professor Holt. Bernhard war mit einem Schlag erwacht und hatte seinen Stolz gezeigt. Das war teuer. Zunächst drei Monate Verdienstausfall. Dann musste Bernhard ein Jahr lang die Luxuswohnung weiterbezahlen, weil er keinen Nachmieter fand. Er zog wieder in seine Bruchbude ein, die er lediglich untervermietet hatte, und suchte von München aus eine neue Stelle; er raste quer durch die Republik. Inzwischen war er siebenundvierzig, viele Chefärzte wollen keinen Oberarzt, der älter ist als sie. Das Allgäu-Abenteuer hatte ein Jahr gedauert und brachte vier Jahre Schulden. Bernhard nannte es ohne Umschweife ein Desaster. Schließlich fand er eine Stelle in der Nähe von Dessau, Anhalt. Dort besuchten wir ihn ein weiteres Jahr später. Bernhard hatte wieder eine große Wohnung, die im Junggesellenstil etwas düster eingerichtet war, sehr kalt, nicht geheizt. Bernhard saß im T-Shirt auf einem schwarzen Ledersessel und erzählte munter von seiner neuen Arbeit. Er fror nicht. Er arbeitet wieder zehn Stunden am Tag. Zufällig erfuhren wir etwas über ihn aus Patientenperspektive, denn eine entfernte Tante von Karl lebte in Dessau. Sie war nach einer Krebsdiagnose psychotisch geworden und in dieser Klinik gelandet, wo sie sich unsterblich in Bernhard verliebte und gar nicht mehr entlassen werden wollte; sie schrieb sich sogar seine Autonummer auf, um immer im Geiste bei ihm zu sein, wenn er durch Anhalt fährt. Sie verriet, dass viele Patienten und Schwestern sein Auto kennen und immer wissen möchten, wo er gerade ist. Ihm war das bekannt. Er wunderte sich. Wir fragten, ob die Krankheiten in Ost und West einander glichen. Im Ganzen ja, meinte er. Nur hätten sie im Osten mehr Alkoholiker. Grund sei die hohe Arbeitslosigkeit seit der Wende. All diese Patienten hätten zwar eine einschlägige Vorgeschichte, mit der Arbeit aber die letzte soziale Kontrolle und Selbstachtung verloren. "Was kann da ein Psychiater tun?" "Wenig. Sie kommen mit Psychose oder Delirium, wir stellen sie wieder auf die Beine, dann entlassen wir sie, und nach einem halben Jahr sind sie wieder da." "Macht dich das nicht fertig?" "Manchmal schon", sagte er. Neulich sei wieder so einer gekommen, vom Hausarzt als "prädelirant" eingewiesen. Der Mann konnte nicht mehr stehen, war nicht ansprechbar, ein Auge sah nach unten, eins nach oben: Augenmuskellähmung. Wernicke-Enzephalopathie, erkannte Bernhard: Eine schwere Hirnerkrankung infolge Vitamin-B1-Mangels, akute Lebensgefahr. Bernhard startete sofort eine Intensivtherapie. Der Mann überlebte, behielt aber einen schweren Hirnschaden zurück und ist nun halb gelähmt, sprech- und denkgestört. Er lebt in einem Pflegeheim. Nur trinken kann er noch. Er fährt im Rollstuhl durch die Zimmer auf der Suche nach Schnaps. Kürzlich hat er das Rasierwasser seines Zimmernachbarn ausgetrunken. Der Patient sei vor der Wende Feldwebel in Ostberlin gewesen und wollte nicht von der Bundeswehr übernommen werden. Damals war er sechsundvierzig. Er begann exzessiv zu trinken, wurde brutal, die Familie floh. Nur eine Tochter besuchte ihn ab und zu und kochte für ihn, und auch er selbst hing an ihr und hat ihr anscheinend nie was getan. Diese Tochter war der einzige Mensch, der ihn in der Klinik besuchte, und Bernhard traf fast der Schlag, als er sie sah: Sie war erst dreizehn. Er musste ihr die Diagnose erklären und war so bestürzt über das Kindergesicht, dass er aus Verlegenheit in den Fachjargon fiel: organisches Psychosyndrom, Vollbild einer Demenz, Notwendigkeit der Hospitalisierung. Sie hörte mit großen Augen zu und fragte dann: "Ja und wann darf Vati wieder heim?" Bernhard schluckte, als er das erzählte. Seine Stimme zitterte. Später fragten wir nach der Allgäu-Episode, und Bernhard erzählte von der Intrige. Schuld war seiner Meinung nach nicht Holt, sondern der Chefarzt der Südklinik Reisz. Reisz sollte als Chefarzt an die Ostklinik wechseln; ohne diese Vereinbarung hätte er die Chef-Stelle Süd gar nicht bekommen. Für die Ost-Stelle empfahl er sich durch seine Härte: Er sollte zwei Drittel der bisherigen Ost-Mitarbeiter entlassen. Weil Holt sich jedoch zuvor verpflichtet hatte, niemandem zu kündigen, sollte Reisz Vorwände finden und Fallstricke auslegen. Reisz wollte aber nicht in den Osten. Deswegen übte er sein Talent für Vorwände und Fallstricke an Bernhard, seinem designierten Nachfolger. Als Holt in Urlaub fuhr, suchte Reisz konsequent Streit. Er brüllte Bernhard an, aber Bernhard hatte keinen Respekt vor ihm und brüllte zurück. Was Bernhard nicht wusste: Reisz schrieb alles auf. Eine Patientin wollte zum Beispiel nach dem körperlichen Entzug keine Psychotherapie machen. Reisz befahl Bernhard, sie zu zwingen. Bernhard weigerte sich: Psychotherapie gegen den Widerstand des Patienten sei sinnlos. Reisz sagte: "Dann handeln Sie gegen das Interesse der Klinik. Wir müssen auf unsere Punkte kommen." Ein anderer Streitfall betraf einen Patienten, bei dem Bernhard eine schwere Zwangserkrankung feststellte. "Ich habe aber die Kollegen gleich gewarnt, dass die sich während der Behandlung mit Antidepressiva noch als Schizophrenie entpuppen kann. Genau das geschah während meines Urlaubs. Reisz behauptete also, ich könne eine Schizophrenie nicht von einer Zwangsstörung unterscheiden." Nach Holts Rückkehr wurde Bernhard zu einem Chef-Termin geladen und war sehr überrascht, als Holt mit versteinerter Miene eine Mappe in den Händen drehte: "Sie haben sich eklatante Fehlbehandlungen geleistet und gegen das Interesse der Klinik verstoßen. Daher muss ich unseren Vorvertrag für gegenstandslos erklären." Pause. "Und wir müssen uns überlegen, wie unter diesen Umständen eine weitere Zusammenarbeit möglich ist." Bernhard sagte: "Herr Professor, unter diesen Umständen ist eine weitere Zusammenarbeit überhaupt nicht möglich. Ich kündige." (Gutmenschen haben Charakter! Gott sei Dank!) Holt: "Moment, Moment! Überlegen Sie sich das noch mal. Ich würde sagen, wir schlafen eine Nacht darüber und führen morgen ein Gespräch." Am nächsten Tag erklärte Bernhard Holt seine Sicht der Vorfälle. Holt fragte: "Ja warum haben Sie das nicht gleich gesagt?" Zurück konnte Holt nicht, er warb noch ein bisschen um Bernhard und bot ihm ab sofort eine Stelle in der Nordklinik an. Bernhard sagte: "Vielen Dank, Herr Professor, für alles, was Sie für mich getan haben, aber ich möchte mich erst mal in Ruhe umsehen." Holt wiederholte das Nord-Angebot schriftlich. Aber Bernhard hatte von Privatkliniken genug. Er hatte richtig gehandelt, fanden wir. Holt hatte teile und herrsche gespielt. Er hatte die leitenden Ärzte mit seinen Versprechungen zu Konkurrenten gemacht, sie aufeinandergehetzt. Dann wollte er per Machtwort einen Pseudo-Frieden herstellen, wobei er Bernhard noch ein bisschen erniedrigte. Ähnlich wäre es auch in der Nordklinik gelaufen. Wir feierten Bernhard. "Wieso - nein ...", lächelte er. "Die finstere Figur in dem Spiel war Reisz ... Holt war nur zu weich. Er war wehrlos gegen Reisz ... Ich glaube, Reisz hat ihn erpresst." "Wieso war er erpressbar?" "Steuerhinterziehung. Holt hat sein Wohnzimmer als Seminarraum deklariert, und als eine Kontrolle angesagt war, verteilte er die Barockmöbel an seine Ärzte und ließ vom Hausmeister Wartezimmermobiliar aufstellen." "Ist das ein mildernder Umstand?" Wir richteten nichts aus. Bernhard stand wieder felsenfest zu seinem Peiniger und belächelte unseren Verfolgungswahn mild. Fast hätte ich das gute Ende vergessen. Es besteht darin, dass wenige Wochen nach Bernhards Rauswurf Holt - entschuldigen Sie bitte - bei einem Hubschrauberunfall zu Tode kam. Ich hatte damals auf der Klamaukseite der Süddeutschen Zeitung vom Absturz eines Privatklinikbesitzers gelesen und gleich an Holt gedacht. Jetzt bestätigte Bernhard: Holt hatte den Hubschrauber selbst gesteuert. Vielleicht war Bernhard deswegen im Rückblick so milde gestimmt? "Mich freut das", sagte ich zu Bernhard. "Über so etwas soll man sich nicht freuen", erwiderte er. Später zeigte er uns ein Buch über Alkoholismus, das Holt geschrieben hatte. Der Aufmachung nach eine Werbebroschüre, Hochglanz. Der Text sichtlich mit heißer Nadel gestrickt, nachlässiger Stil, viele Interpunktionsfehler. Ich las: Wenn ein Patient sich nach dem Entzug gegen weitere therapeutische Maßnahmen sperrt, zwingen wir ihn auf keinen Fall; schließlich fühlen wir uns auch zur Schonung seiner Finanzen verpflichtet. "Dass du genau das befolgt hast, wurde dir vorgeworfen", sagte ich zu Bernhard. Bernhard sagte: "Ja, aber nicht von Holt, sondern von Reisz." Karl las eine andere Stelle vor: Früher wurde in der Behandlung des Alkoholikers vor allem mit moralischem Druck und Strafmaßnahmen gearbeitet. Wir von den ABC-Kliniken weisen diese antiquierte Methode zurück. Unser oberster Grundsatz ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. (Auch außerhalb der Kliniken grassiert Wahn - als Selbstmystifizierung, Ideologie, Hochstapelei. Anders als beim klinischen Wahn steckt oft eine Absicht dahinter, und deren Ziel ist oft Betrug. Man darf sich fragen, welcher Wahn schädlicher ist.) "Findest du nicht komisch, dass ausgerechnet Holt von Würde redet? Er, der die Würde seiner Mitarbeiter und Patienten fast systematisch verletzt hat?" "Nein", sagte Bernhard. "Ich finde es nicht komisch." Gutmenschen sind treu. Allerdings war Bernhard ja auch im Frieden mit sich. Er hatte, als es notwendig war, durch einen klaren Schritt seine Würde wiederhergestellt, er hatte sich weder beschmeicheln noch bestechen lassen und war ohne Zähneknirschen mit einem freundlichen Händedruck von Holt geschieden. "Eines hättest du ihm beim Abschied noch sagen sollen", fiel mir ein, "und zwar: Herr Professor, ich gehe ohne Zähneknirschen, aber wenn Sie mit Ihrem Hubschrauber demnächst in Turbulenzen geraten, denken Sie bitte an mich." Bernhard verstand nicht sofort, was ich meinte. Nach einer Weile lächelte er verlegen: "Aber das wusste ich doch damals noch nicht!"Petra Morsbach, geboren 1956, ist Schriftstellerin und lebt am Starnberger See. Zuletzt erschienen von ihr die Romane Opernroman und Geschichte mit Pferden.Petra Morsbachs hier vorab gedruckter Text wird im September in der von Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser herausgegebenen Anthologie In einem Reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft erscheinen. Der groß angelegte Band umfasst mehr als 40 Sozialreportagen und Essays verschiedener AutorInnen und versteht sich als eine Bestandsaufnahme deutscher Verhältnisse, wobei sein Hauptaugenmerk randständigen Menschen gilt. In einem reichen Land erscheint beim Steidl-Verlag, 672 S., 34 Euro
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