Eigeninitiative Es gibt das von Bundespräsident Köhler geforderte außerschulische Engagement in Sachen Integration, aber es wird oft nicht als solches wahrgenommen: Zwei Beispiele aus Berlin-Neukölln und deren mediale Darstellung
Die "Berliner Rede", eingeführt 1997 durch den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog ("Durch Deutschland muss ein Ruck gehen"), dient dem Vortragenden üblicher Weise dazu, eine seiner Meinung nach gesellschaftlich hoch relevante Frage in den Vordergrund zu stellen, um so als Impulsgeber für mögliche Veränderungen zu fungieren. Bundespräsident Horst Köhler wählte als Thema seiner Ansprache vergangene Woche den Bereich Bildung, um dessen für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands notwendige Rolle zu unterstreichen. Nichts Neues kam dabei heraus; einem munteren Aneinanderreihen von Zitaten bekannter Bildungshumanisten und gut gemeinten Ratschlägen Richtung Schulen, Politik und Zivilgesellschaft folgte die harm
armlose Forderung nach "Bildung für alle". Was soll man anderes erwarten von einem Mann, der als ehemaliger Vorsitzender des Internationalen Währungsfonds das neoliberale Credo der weltweiten Deregulierung und Privatisierung à la washington concensus unterstützte, dessen zentraler Bestandteil auch Bildung ist? Der Neoliberalismus sorgt demnach von allein für Chancengleichheit. Diese Egalität fordert er nun in staatsmännischer Gutmensch-Manier ein, und gibt sich mit der Wahl des Ortes seiner Empfehlungen betont volksnah: Die Kepler-Hauptschule in Berlin Neukölln.Wie in den meisten der Neuköllner Schulen sind es vor allem Kinder von Einwanderern, die dort zur Schule gehen, was zu den allseits bekannten Schwierigkeiten führt. Der erste Mann im Staate geht auch auf diese Tatsache ein. Zwar formuliert er es nicht explizit, doch zwischen den Zeilen ist es zweifelsohne erkenntlich: Die Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder liegt hauptsächlich bei den Eltern. Würden diese die vorhandenen Integrationsangebote weiterhin nicht nutzen, weiterhin nicht deutsch sprechen, dann läge die Schuld späterer Ausgrenzung durch fehlende Arbeit und Anbindung an die Mehrheitsgesellschaft allein bei ihnen. Ahnungslos scheinheilig klammert er die in Deutschland und vor allem in Berlin stetig wachsende Kinderarmut aus und schiebt die Verantwortung der Politik für die herrschenden Realitäten nach unten ab: Als Vertreter par exellence der politischen Elite fordert er so "alle Bürgerinnen und Bürger" auf, durch "bürgerliches Engagement", am liebsten ehrenamtlich, dem Bildungsnotstand ein Ende zu setzen.Doch findet ein solches längst statt. Wie allerdings die öffentliche Wahrnehmung außerschulischen Engagements oft genug aussieht, wird anhand zweier Projekte aus dem Paradebeispiel Berlin-Neukölln deutlich. Nachdem im vergangenen Jahr über die Medien deutschlandweit ein Bild von Ghetto, Gewalt und Chaos über diesen Stadtteil und seine Kinder verbreitet wurde, fanden in der unmittelbaren Nachbarschaft der Rütli-Hauptschule zwei Workshops statt: Eine Poesiewerkstatt und eine Fotoaktion. Beide wollten Berliner Kindern die Möglichkeit geben, sich selbst und ihre Umwelt zu artikulieren, zum einen über den Weg der gesprochenen Worte, anschließend ins Reine geschrieben, zum anderen durch Visualisierung via Fotographie mit folgender Ausstellung. Die entstandenen Ergebnisse weisen einen hohen Grad an Authentizität auf, und lassen auf unterschiedlichste Art und Weise Einblicke in die Gedanken- und Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen zu.Während der Poesiewerkstatt konnte jedes der teilnehmenden Kinder, das sich im Jugendklub des "KIOSK e.V." aufhielt, eine Geschichte - egal ob wahr oder erfunden - erzählen, welche die Projektleiterin dann aufschrieb, sammelte und später in einem kleinen Heft abdruckte. "Ihr könnt alles erzählen, ich schreibe es auf", so das Motto der Projektleiterin, einer Kinderbuchautorin. Grenzen wurden keine gesetzt. Heraus kamen Erzählungen, die ein Gemisch aus Alltagsrealität, Kinofiktion und Kinderphantasien darstellen. Spannende und komische Geschichten, mal übertrieben ordinär, mal gewalttätig, alles im Rahmen ganz normaler Kindergespinste.Die anschließende mediale Darstellung des Projektes ist ein Zeugnis für die anhaltende Typisierung, ja Abstempelung eines ganzen Stadtteiles als Ghetto und Armenhaus. So kümmere sich die Poesiewerkstatt laut Tagesspiegel um die "Problemkinder aus Neukölln", die "als gewalttätig, zurückgeblieben und asozial verschrien" sind. Ein "dünnes, blasses Mädchen" kauft sich im Jugendklub für 50 Cent täglich "eine Suppe", ein Junge, "schwarze, kurze Haare und dunkle Augen", schmächtig, hat Angst vor Drogendealern, ja sogar "Stoff" würde ihnen angeboten "Könnte eine Großstadtidylle sein. Aber eigentlich ist das ein schrecklicher Platz." Mit welchen Hintergedanken schreibt die Süddeutsche Zeitung: "Schlampen, Puffs und Zichopaten: Unsere Autorin betreibt am Berliner Reuterplatz, in der Nachbarschaft der Neuköllner Rütli-Schule, eine Poesie-Werkstatt. Kein Ort könnte mutiger gewählt sein. Hier ist der erschütternde Bericht." Überschrift: Die Kinder von Neukölln: Die Zombies über Berlin. Auf dem Begleitfoto der Druckausgabe bedrohen sich orientalisch aussehende Kinder mit Spielzeugpistolen, es sieht nicht nach Spiel aus. Die Onlineversion zeigt ein noch schockierendes Kollage-Bild: Schmerzverzogene, halbtot aussehende Maskengesichter im grellen, aggressiven Röntgenbilddesign schreien dem Betrachter entgegen. Erschreckend.Findet auf diese Art und Weise eine Angstmache statt, sollen derart schon bestehende gesellschaftliche Kluften weiter aufgerissen und somit unüberwindbar gemacht werden? Der Bericht und seine Verfasserin als Kronzeugin für eine verfehlte Politik gegenüber Zugewanderten und deren vermeintliche Unfähigkeit, sich in der "Mehrheitsgesellschaft" und seiner "Leitkultur" zu integrieren? Ein gefährliches Spiel der Hetze und verzerrender Fehlinformation wird hinter dem aufklärerischen Deckmäntelchen betrieben, dass man die Realität ungeschönt so zeigen wolle, wie sie angeblich sei. Die Folgen für die Kinder und Jugendlichen sind fatal: Wer will einem auf diese Weise beschriebenem Ghettokind schon einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz geben, seine Kinder mit ihm spielen lassen, es auf die selbe Schule schicken?Dass eine ganz andere Wirklichkeit stattfindet belegt das Fotoprojekt, an dem dieselben Kinder teilnahmen. Die mit Einwegkameras aufgenommenen Fotos zeigen das Gegenteil der über Neukölln und seine Bewohner produzierten Bilder: Normalität und Alltag statt Gewalt und Drogen. Zu sehen sind Aufnahmen von Melonen eines Gemüsehändlers, Gruppen- und Porträtfotos von Freunden, ja sogar kleine Kunstwerke sind entstanden wie der kubistische Blick durch die Rutschröhre. Der Großteil der Bilder wurde von der Organisatorin, einer Literaturwissenschaftlerin, in einer Berliner Galerie ausgestellt. Die visuellen Erzeugnisse eignen sich nicht so leicht zur Denunziation und Verleumdung, zudem gilt der Grundsatz: Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Dennoch bleibt zu hoffen, dass einige der Bilder das Licht einer breiteren Öffentlichkeit erreichen, um zur Reduzierung von Stereotypen und Klischees beizutragen.Fotoausstellung: Vielfalt e.V.; Maibachufer 5; 12047 Berlin; Mo-Fr 10 bis 18 Uhr
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