Spätestens seit den sechziger Jahren ist der bildungsökonomische Grundsatz bekannt, dass der Anteil der Staatsausgaben für das Bildungssystem in einer positiven Relation zum Bruttosozialprodukt eines Landes steht. Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass Länder mit höheren Ausgaben für ihr Bildungssystem auch ökonomisch erfolgreicher waren.
Dieser Grundsatz konnte so lange gelten, wie Bildungsgüter, Wissen und Kapital regional gebunden waren. Wer in Deutschland oder Frankreich oder England studiert hatte, stand wesentlich dem dortigen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Auch die ausländischen Studierenden wurden vor diesem Hintergrund in den jeweiligen Ländern ausgebildet. Der griechische oder chinesische Student mit deutschem Ingenieurabschluss
abschluss sollte in seinem Heimatland mit Technik aus Deutschland arbeiten. Die Exporterfolge von Siemens beispielsweise wären ohne diese, in Deutschland ausgebildeten Ingenieure, nicht denkbar gewesen.Mit dem Einzug der Mikroelektronik in alle Bereiche der Arbeitswelt und mit der Globalisierung der Wirtschaft, haben sich jedoch auch Bildungsgüter und Wissen globalisiert. Es ist vorrangig die Windows-Oberfläche, die es heute fast jedem Menschen überall erlaubt, unabhängig von Regional- und Landessprache, seiner Tätigkeit nachzugehen.Ingenieure, die mit CAD und anderen computerbasierten Konstruktionsprogrammen arbeiten, haben meist keine Probleme in anderen Ländern zu arbeiten, denn diese Programme stehen in englischen Sprachversionen zur Verfügung. Indische, türkische oder deutsche Ingenieure arbeiten so nicht nur mit der gleichen Oberfläche, sondern oft auch mit der gleichen Sprachversion eines Programms. So wundert es denn nicht, dass in den Konstruktionsabteilungen großer Firmen inzwischen babylonische Sprachverhältnisse herrschen, in denen alleine Englisch als Lingua franca dient.Unter dem Aspekt globalisierter Arbeitsmärkte geraten auch die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft ins Blickfeld. Die Kosten einer Ingenieurs- oder Programmiererausbildung in Deutschland liegen dabei weit über denen einer gleichwertigen Ausbildung in Indien. Hier, in der so genannten dritten Welt, tragen ohnehin wesentlich die Familien die Hauptlasten der Ausbildungskosten. Der indische IT-Experte kostet den deutschen Staat und das Kapital keinen Pfennig, während sein Kollege mit deutschem Pass Kosten im sechsstelligen Bereich verursacht hat.Das Grunddilemma der deutschen Bildungsmisere basiert auf einem Bildungssystem, welches vorrangig noch wie die frühkapitalistische preußische Gesellschaft gegliedert ist. Den Aufgaben einer globalisierten Ökonomie wird man so nicht mehr gerecht. Wenn Schüler mit zehn oder zwölf Jahren in Deutschland in Haupt-, Realschüler und Gymnasiasten aufgeteilt werden, so zeigt dies, wie weit sich dieses System von den ökonomischen Realitäten entfernt hat.Die Hauptschule war, wie es ihr Name verrät, einmal als die Schule für breite Bevölkerungsschichten gedacht, und ihr Abschluss befähigte noch vor 30 Jahren die meisten Menschen zu einer qualifizierten Berufsausbildung. Inzwischen ist sie zur Restschule verkommen und ein Hauptschulabschluss gleicht eher einem Stigma als einem Bildungsnachweis. Stattdessen käme es darauf an, allen Kindern eine Grundausbildung zu bieten, die sie befähigen würde, sich in der modernen Welt zurechtzufinden.Ähnlich sieht es auch in anderen Bereichen aus. Anstatt beispielsweise Fremdsprachen ab der ersten Klasse zu vermitteln oder die Grundlagen der Informatik zu lehren, werden die Kinder (und ihre Eltern) mit dem Aufstellen von PCs und der Einrichtung von ein paar Internetanschlüssen ruhig gestellt. Schüler müssten stattdessen lernen, Programme selbst zu schreiben oder ihr eigenes Schulnetzwerk selbst aufzubauen und zu warten. All dieses geschieht nicht, und so klicken sich die Schüler eher lustlos durchs Internet oder durch standardisierte Lernprogramme. Bildungszertifikate und damit Zugangschancen zum Arbeitsmarkt hingegen werden nach wie vor für die handschriftliche Orthographie und Rechnen vergeben.Tatsächlich wären aktuell die Lehrer gar nicht in der Lage, die geforderten Qualifizierungen für das digitale Zeitalter zu vermitteln. So herrscht bei Lehrern an deutschen Schulen ein Altersdurchschnitt von etwa 50 Jahren. Viele Lehrer steuern zielstrebig auf die Pensionierung zu und sind froh, sich nicht mehr mit einem Computer oder den aktuellen Nöten ihrer Schüler beschäftigen zu müssen. Junge Kollegen fehlen. Die Lehrerschwemme der achtziger Jahre kam der Computerindustrie zugute und nicht den Schulen. Denn über Umschulungen fanden nicht wenige Pädagogen den Weg in die IT-Branche.Die Versäumnisse im Bildungsbereich versucht man aktuell durch Zuwanderung auszugleichen. Bildungsökonomisch entspricht das genau den Idealen der neoliberalen neuen Weltordnung. In der Ökonomie finden wir hierfür die Begriffe des "outsourcing" und des "just in time".Wie man sich in der Industrie keine großen Lager mehr anlegt, sondern sich die Produkte passend liefern lässt, verfährt man auch mit der Ware Arbeitskraft. Man bildet selbst nicht mehr aus und sorgt damit nicht mehr dafür, dass immer eine ausreichende Anzahl von heimischen Fachkräften zur Verfügung steht, sondern man bedient sich eines internationalen Arbeitskräftereservoirs.Gleichzeitig werden die Bildungskosten weitgehend privatisiert. Wer Geld hat und zu den bildungsorientierten Schichten gehört, schickt auch in Deutschland seine Kinder auf eine private Schule oder lässt sie von einem privaten Institut aus- und weiterbilden. Hinzu kommt ein gigantischer Markt mit Nachhilfeunterricht und zusätzlichen Lernangeboten für Kinder und Erwachsene. Dieser höchst undurchsichtige Markt sorgt für die Reproduktion der sozialen Schichten. Da die Unterschicht oft nicht weiß, wie Nachhilfe und Bildungsanreize für den Nachwuchs zu organisieren sind, ist unser Bildungssystem so undurchlässig, wie es die Pisa-Studie eindeutig belegt.Das Risiko der Fehlinvestition, beispielsweise in einen Bildungsgang, dessen Qualifikation am Ende des Studiums auf dem Arbeitsmarkt nicht nachgefragt wird, tragen ebenfalls die Individuen. In einer Zeit rasanter technischer Innovationen ist dieses Risiko enorm, denn niemand vermag vorherzusagen, wie viele Ingenieure, Programmierer, Sekretärinnen oder Dreher in ein paar Jahren noch gebraucht werden.Wie schon zu Zeiten der ersten Gastarbeiteranwerbung begeht man schließlich den Fehler, nur über die ökonomischen Aspekte von Ausbildung und Zuwanderung, nicht aber über die menschlichen Bedürfnisse der Individuen und über die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft zu sprechen. Damit trägt der Diskurs selbst inhumane Züge, und es darf angesichts der entmenschlichten Diskussion nicht verwundern, dass die glatzköpfige Jugend strukturarmer Regionen meint, sich die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt einfach mit dem Baseballschläger vom Leib halten zu dürfen. Dabei wäre die Umsetzung von Adornos Forderungen an eine Erziehung nach Auschwitz angesichts der lokalen und globalen Missstände nötiger den je.Erst wenn ein breiter Diskurs in der Bevölkerung darüber entstehen würde, dass Bildung ein Grundrecht ist, welches eingefordert werden muss, könnte Bewegung in die Sache kommen. Da aber auch die bildungsorientierten Schichten eher den individuellen Ausweg wählen und ihren Nachwuchs privat fördern, droht dem deutschen Bildungssystem der Ausverkauf. Wie bei den Gesundheits- und Sozialsystemen werden Risiken letztlich privatisiert. Legasthenie oder Zahnschiefstellung: Die "Fehler" des Nachwuchses wird man in naher Zukunft aus eigener Tasche korrigieren lassen müssen. Die Schule im sozialen Brennpunkt bekommt stattdessen einen Metalldetektor. Den Rest regelt der Markt.
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