Wenn nicht alles täuscht, hat die Rede von der Charaktermaske gerade eine kleine Konjunktur. In einem Beitrag für den Freitag hat der Ironiker Michael Rutschky (Ausgabe vom 15. Juli) den Begriffsinhalt des Wortes auf den Widerspruch von Sein und Schein hin gelesen und in ihrem semantischen Gehalt ganz auf den Schein verbucht. Aber auch das Sein kann sich in Masken zeigen. Eine Charaktermaske ist, was als „individuelle Manie erscheint“, in Wirklichkeit aber durch die ökonomischen Verhältnisse „den Individuen aufgeprägt“ wird. So jedenfalls hatte es Karl Marx geschrieben.
Lauter Charaktermasken im „realen“ Leben also? Und sonst nichts? Das ist die konventionelle Deutung. Gegen die ein Philologe aus St. Gallen eine Lanze bricht: Christoph Henning im Marx-Engels-Jahrbuch 2009. Herausgeber ist die Internationale Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam. Schön, dass es so ein Forum gibt, in dem die Marxologen ihre Interpretationen diskutieren können. Nun haben kluge Leute Marx beschimpft, weil er ein Einsehen hatte in die Not „bestimmter gesellschaftlicher Charaktere“, insofern „deren Träger“ nur „Agenten“ seien, Personifizierungen ihrer Verhältnisse. Man kann Herrn Ackermann verfluchen, weil er von der Deutschen Bank 25 Prozent Dividende fordert (obwohl er in der Familie vielleicht ein anständiger Mensch ist). Aber er kann eben nicht anders.
Seit Jahr und Tag behauptet die akademische Philosophie, dass im Marx’schen Kosmos Individualität nicht vorkomme. Zumal in den ökonomischen Schriften strafe er das Individuum „mit Nicht- oder Verachtung“, glaubt der Engländer Gerald A. Cohen. Aber auch Adorno sah nicht durch, nämlich durch die „ökonomische Charaktermaske“; sie decke sich mit dem Bewusstsein der Person „bis aufs kleinste Fältchen“, meinte er. Das vermerkt Henning in einer Fußnote – um im Haupttext aus verstreuten Bemerkungen von Marx der Charaktermaske auf die Spur zu kommen. Wenn Marx feststellt, dass die Menschen im Kapitalismus unter Masken auftreten, die „nur die Personifikation der ökonomischen Verhältnisse sind“, ist ja im Umkehrschluss gesagt, dass es hinter der Maske noch etwas anderes gibt. Und er benennt es auch im Kapital: „die menschliche Natur im Allgemeinen“. Im ersten Heft Zur Kritik der politischen Ökonomie macht Marx klar: Die „socialen Charaktere entspringen also keineswegs aus der menschlichen Individualität überhaupt“. Es sei jedoch „albern“, sie als „gesellschaftliche Form der menschlichen Individualität aufzufassen, ebenso verkehrt ist es, sie als Aufhebung der Individualität zu bethränen“. (Wie es später die Frankfurter Schule getan hat.) Diese Stelle hat Henning nicht gründlich genug ausgebeutet. Doch er weist schlüssig nach, dass es Marx darum ging, „der Macht der‚ Charaktermaske‘ ein gestärktes und möglichst autonomes Selbst entgegensetzen zu können“. Einer der 13 Beiträge des Jahrbuchs spürt dann auch der Subjektivität und ihrer Entfremdung nach, die sich hinter den Masken verbirgt. Wer aber wissen will, wie Protagonisten aus ihrer Charaktermaske heraustreten, der kann das Gespräch über eine Inszenierung der Theatergruppe Rimini Protokoll im Jahrbuch 2007 lesen. In dem Stück Karl Marx. Das Kapital, Erster Band erzählen soziale Charaktere (keine Schauspieler!) ihr Leben unter der Fuchtel des Kapitals, auch über ihre verrückten Begegnungen mit dem Kapital.
Da bleibt manchmal nur die Frage an den Text und an die Welt: „Worum geht es denn hier überhaupt?“
Marx-Engels-Jahrbuch 2009. Akademie Verlag Berlin, 2010; 238 Seiten, 39,80
Kommentare 1
Sehr geehrter Herr Grandt,
Sie schreiben: "Aber auch Adorno sah nicht durch, nämlich durch die „ökonomische Charaktermaske“; sie decke sich mit dem Bewusstsein der Person „bis aufs kleinste Fältchen“, meinte er. Das vermerkt Henning in einer Fußnote – um im Haupttext aus verstreuten Bemerkungen von Marx der Charaktermaske auf die Spur zu kommen."
Dazu nur die Bemerkung, dass diese Kritik der Kritischen Theorie, die Herr Henning da anbringt, am Gegenstand vorbei geht. Es ist doch erstens von Adorno selbst ausgesprochen worden, dass er die Übertreibung als Medium der Erkenntnis nutzt. Zweitens geht es der Kritischen Theorie Adornos darum, wie sich die gesellschaftlichen Verhaltensnötigungen des Kapitalismus in die Psyche der diesen Zwängen unterliegenden Menschen verlängern: Dass viele auch das Wollen, was sie Sollen - platt gesagt. Und drittens weiß auch die Kritische Theorie, dass es nie zur gänzlichen Deckungsgleichheit von Charakter und Charaktermasken kommen kann. Horkheimer spricht zwar davon, die Menschen seien "bösartige Charaktermasken", aber solche "hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt".
Frank Gestmann