Gießen ist eine Autostadt, bislang. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, dominieren heute gesichtslose Bauten. Eine vier- bis sechsspurige Straße, der Anlagenring, umgibt die Innenstadt. Sternförmig davon führen zum Teil ebenfalls mehrspurige Straßen ins Umland. Die gesamte Stadtplanung ist auf das Auto ausgerichtet. Laut der Lokalpresse bewegten sich 2019 selbst von den Gießener Student*innen – einer Gruppe also, die anderswo mit übergroßer Mehrheit aufs Fahrrad setzt – nur 28 Prozent mit dem Rad fort. In Münster waren es 2018 über 82 Prozent.
Ein Bündnis für eine Verkehrswende will das nun ändern. „Die Voraussetzungen sind gut in Gießen: Die Bevölkerungsstruktur ist relativ jung, und die
g, und die Topografie erlaubt es, das Fahrrad als Verkehrsmittel zu nutzen“, erklärte der Gießener Student Oliver Jenschke im Februar dieses Jahres bei der Vorstellung eines Bürgerantrags in der Stadtverordnetenversammlung. Dieser sieht vor, zwei Spuren des Anlagenrings dem Radverkehr vorzubehalten. Zwei Hauptachsen durch die Innenstadt sollen ebenfalls Fahrradstraßen werden. Mit knapper Mehrheit stimmte die Gießener Gemeindevertretung im März dafür, dies zunächst für ein Jahr auszuprobieren.Gießen ist nicht allein: Auch andernorts ist in Deutschland etwas in Bewegung geraten, angeschoben nicht zuletzt durch das Coronavirus. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) beobachtete bereits in den letzten zehn bis 15 Jahren deutlich steigende Zahlen der Radfahrer*innen. „Die Pandemie hat die Entwicklung noch beschleunigt, in den Großstädten gab es zum Teil zweistellige Wachstumsraten“, berichtet Stephanie Krone für die Organisation. „Da war es gut, dass einige Städte schnell versucht haben nachzujustieren, durch Schnellbaumaßnahmen wie Pop-up-Radwege, aber auch über Verkehrsberuhigung.“Zum Beispiel DarmstadtPop-up-Radwege sind quasi über Nacht eingerichtete Fahrradwege: ein paar Baustellenbaken, ein bisschen Farbe auf die Fahrbahn, fertig. Im Januar dieses Jahres bekräftigte das Oberverwaltungsgericht Berlin deren Rechtmäßigkeit, Ende März kündigte die grüne Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg-Friedrichshain an, den ersten von ihnen zu verstetigen. In Berlin standen die Zeichen von vornherein gut, denn das dortige Mobilitätsgesetz sieht vor, dass auf den Hauptstraßen bis 2030 geschützte Radwege entstehen müssen. „Aber der wichtigste Effekt war, dass mit Corona eine neue Geisteshaltung in Verwaltung und Politik entstand: spontan, ohne viele Gutachten etwas zu tun“, bemerkt Ragnhild Sørgensen von Changing Cities e. V. In München werden die errichteten Pop-up-Radwege nach einer Evaluierung reaktiviert, Bremen weihte vergangenen Sommer Deutschlands erstes Fahrradquartier ein.Placeholder infobox-2In weiten Teilen des Landes haben es Stadt- und Verkehrsplaner*innen dagegen über Jahrzehnte verschlafen, die Städte für den wachsenden Radverkehr nachzurüsten. Laut dem ADFC-Fahrradklimatest 2020 würden rund 60 Prozent der Bevölkerung auf das Fahrrad umsteigen, wenn sich das komfortabel und sicher anfühle. Doch das tut es offensichtlich vielerorts nicht. „Die Menschen haben das Gefühl, dass sie als Radfahrer im Verkehr nicht vorgesehen sind. Sie werden angehupt, abgedrängt, zu eng überholt. Radwege, wenn es sie gibt, sind zu eng, in schlechtem Zustand, auch schlecht geführt, sodass es an Kreuzungen und Einmündungen Probleme gibt“, resümiert Krone. Und so steigt mit der Zahl der Radfahrer*innen auch die der Unfälle.Das soll sich jetzt ändern: Rund 1,46 Milliarden Euro will der Bund von 2021 bis 2023 in den Radverkehr investieren, 660 Millionen davon im Rahmen des Sonderprogramms „Stadt und Land“ für den flächendeckenden Ausbau der Radwege. Sørgensen ist da skeptisch: „In der Verwaltung sitzen oft Menschen, die bislang nur für Autos geplant haben und keine Ahnung haben, wie das für den Radverkehr aussehen könnte“, kritisiert sie, die Frist sei dementsprechend viel zu knapp gewählt. Der ADFC fordert deshalb eine Verlängerung der Mittel über 2023 hinaus.Einen wesentlichen Pfeiler der Verkehrswende sieht Stephanie Krone vom ADFC in den Radschnellwegen, denn auf breiten, asphaltierten Wegen lassen sich schnell viele Kilometer zurücklegen. Auch für Beleuchtung ist nachts gesorgt. „Sie haben das Potenzial, den Pendelverkehr in großem Stil vom Auto aufs Fahrrad zu verlagern. Dass das funktioniert, haben die Niederländer schon vor Jahren gezeigt: In dem kleinen Land gibt es schon 600 Kilometer bestens ausgebauter Radschnellwege. Bei uns sind es je nach Definition erst 15 bis 30 Kilometer.“Der erste hessische Radschnellweg entsteht derzeit von Darmstadt nach Frankfurt und wird von Jürgen Follmann, Professor für Verkehrswesen an der Hochschule Darmstadt, wissenschaftlich begleitet. 2024 soll die rund 30 Kilometer lange Strecke fertig sein. Den Anstoß gaben dafür laut Follmann die Student*innen: „Die Region ist von Staus geprägt, dabei ist es oft nur ein kurzer Weg in die Stadt hinein.“ Auch waren weder Darmstadt noch Wiesbaden an den Planungsraum Rhein-Main angeschlossen. Umfragen zeigten aber, dass es die Bürger*innen vor allem begrüßen, damit etwas für ihre Gesundheit tun zu können.Überhaupt sind es Teile der Bevölkerung, die die Transformation antreiben. Dem Antrag vor der Gießener Stadtverordnetenversammlung gingen zwei Fahrradkorsos voraus. Zum globalen Klimastreiktag am 19. März demonstrierten nach Angaben der Polizei erneut 750 Radfahrer*innen aus Mittelhessen in Gießen und auf dem Gießener Ring für eine Verkehrswende. In Berlin sperrten Aktivist*innen von Fridays for Future am selben Tag die die Spree überquerende Oberbaumbrücke und bemalten diese. Zeitgleich fanden zwei Fahrraddemos „Für ein klimagerechtes Berlin“ statt.1.000 Euro für alle ohne AutoIm ersten Jahr der Pandemie stieg auch die Zahl der Bürgerbegehren für eine fahrradfreundlichere Stadt sprunghaft an. Sogenannte Radentscheide gibt es bereits seit ein paar Jahren. Zu den Vorreitern gehört Darmstadt. 2018 gegründet, sammelten Fahrradaffine in nur zwei Monaten 11.000 Unterschriften für ihr Anliegen. „Inzwischen hat die Stadt einige Beschlüsse gefasst. Die wesentlichen Forderungen hat sie dabei übernommen“, resümiert Initiator David Grünewald. Fünf Kilometer Hauptstraßen sollen pro Jahr für den Radverkehr umgestaltet werden. Nun gehe es um die Umsetzung. Günstig wirken sich dabei die Verhältnisse im Stadtparlament aus, wo die Grünen die größte Fraktion und den Oberbürgermeister stellen.Auch Lastenräder sind weiter im Aufwind. Die Sprecherin des Forums Freier Lastenräder, Stephanie Anderseck, beobachtet seit 2020 einen neuen Boom: „Nachdem sich zwischen 2015 und 2017 in vielen größeren Städten Initiativen gegründet haben, passiert das jetzt in kleineren Städten oder in den Regionen“, erzählt sie.Um noch mehr Menschen dazu zu bringen, ihr Auto abzuschaffen, propagieren Changing Cities e. V. und das institut für urbane mobilität (ium) eine Freie-Straßen-Prämie: Danach sollen alle Menschen ab 18 Jahren, die während eines Kalenderjahres kein Auto angemeldet haben, rund 1.000 Euro erhalten. Damit ließe sich vielerorts ein Jahresabo für Bus und Bahn finanzieren, ein Fahrrad und Regenkleidung oder eine Carsharing-Mitgliedschaft. „Die Idee kam auf, als es wieder mal eine Abwrackprämie geben sollte“, erinnert sich Ragnhild Sørgensen. „Wir wollen damit nachhaltiges Mobilitätsverhalten belohnen.“ Grundsätzlich seien Fördermaßnahmen viel weniger konfliktbeladen als Verbote. Bis zum Herbst soll das Konzept stehen.Obwohl die Nutzung des Fahrrads in Deutschland immer mehr Land gewinnt, bleibt noch viel zu tun. Laut Sørgensen sind europäische Metropolen wie Paris, London oder Mailand dabei, deutsche Großstädte zu überholen. „Sie haben entdeckt, dass die Autos unsere Städte kaputt machen und ihnen ihre Attraktivität nehmen.“ Viel lernen lässt sich von den Vorreitern Niederlande und Dänemark, etwa wie man Radwege klarer von Autostraßen trennt, wie ein zusammenhängendes eigenständiges Wegenetz geschaffen oder Unfälle an Kreuzungen verhindert werden können. In den Niederlanden wurden – als logische Weiterführung der geschützten Radwege – die „Schutzkreuzungen“ entwickelt: „Das wichtigste Merkmal sind Schutzinseln aus Beton auf der Kreuzung, (die Radwege und Fahrbahn räumlich trennen). Der Autoverkehr biegt in größerem Bogen ab und stößt damit fast rechtwinklig auf den geradeaus fahrenden Radverkehr“, erklärt Krone. Eine erste solche Schutzkreuzung ist nun auch in Darmstadt geplant.„Als Dänemark vor 30, 40 Jahren mit der Fahrradförderung begann, ging es weder um das Klima noch um Nachhaltigkeit, sondern um wirtschaftliches Kalkül“, sagt Sørgensen. Denn: Vermehrte Bewegung kommt dem Gesundheitssystem zugute, und Fahrradinfrastruktur ist günstiger als die für Autos. Obrendrein bremst eine Fahrradwende den Klimawandel und steigert zugleich die Lebensqualität.Placeholder infobox-1
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