Immer wenn in meiner Gegenwart jemand von Polen erzählt, kann ich nicht mehr weghören. Irgendetwas verbindet mich mit diesem Land mehr als mit jenen, die sich Richtung Sonnenuntergang erstrecken.
Meine früheste Erinnerung an Polen sind unglaublich große, bunte Lutscher. Dann Kolberg oder Kolobzek, oder weiß der Teufel, der sich diese Sprache ausgedacht hat, wie man dieses Wort und überhaupt alles auf polnisch richtig ausspricht.
Ostseebad Kolberg in den siebziger Jahren. Familie Ebeling macht 14 Tage Strandurlaub. Alles hätte gut werden können, wenn - ja wenn mein ehrenwerter Herr Vater nicht seine Badehose vergessen hätte. Nacktbaden war in unserer Familie verpönt. Jeder normale Mensch hätte sich nun also eine neue Badehose gekauft. Zu
ehose gekauft. Zumal damals polnische Badehosen die Strände von Rimini bis zur Copacabana zum Kochen gebracht haben. Nicht so mein Vater. Sehr unkonventionell veranlagt, hat er einfach den einteiligen Ersatzbadeanzug meiner Mutter angezogen. Meine Mutter protestierte, mein Bruder und ich heulten vor Wut und Scham. Es war nichts zu machen. Von da ab blieben mein Bruder und ich im Hotelzimmer. Mit so was wollten wir nichts zu tun haben. Aber auch dieser Urlaub ging vorüber und dann kamen die Achtziger. Lech Walesa ließ sich einen dicken Schnauzbart und den Einfluss der Gewerkschaft Solidarnosc wachsen, und die Oder/Neiße-Friedens-Grenze wurde für DDR-Bürger fast so undurchlässig wie die Berliner Mauer.1987 unternahm ich dann meine erste eigene Polenreise zusammen mit einer Freundin. Wie alle meine Reisen nach Osteuropa war sie von einer bittersüßen Grundstimmung geprägt. Es war eine organisierte Reise des Reisebüros Jugendtourist, die uns an verschiedene Orte der polnischen Ostsee führte. Kathleen, meine Begleiterin, hatte ihre langen Haare feuerrot gefärbt und ich hatte meine damals ebenfalls schulterlangen Haare hennarot gefärbt. Zufällig erfuhren wir später, dass wir bei den übrigen Mitreisenden nur Baader/Meinhof hießen. Sicher auch deshalb, weil wir uns immer ein wenig abseits hielten. Eines Abends versuchten wir, in Stettin in eine Disko zu gehen. Der Taxifahrer hielt uns wahrscheinlich auch für Baader/Meinhof, auf jeden Fall aber für Westdeutsche, denn als wir das Taxi bezahlt hatten, waren wir praktisch pleite. Das war ohnehin bei allen Osteuropa-Reisen ein Problem für DDR-Bürger. Sie redeten Deutsch, sie sahen aus wie Deutsche, sie rochen wie Deutsche und sie schmeckten wie Deutsche. Aber sie waren keine Deutschen. Zumindest keine Westdeutschen. Wir konnten nicht das Fünffache des üblichen Preises bezahlen und uns dann immer noch ein Loch in den Po freun, wie billig hier alles ist.Aber was ich erzählen will, ist etwas ganz anderes. Eigentlich eine total traurige Geschichte, die aber letztlich der Grund ist, weshalb ich mich überhaupt noch an diese surreal langweilige Reise erinnere. Zum Ende der Unternehmung befanden wir uns in einer unbedeutenden kleinen Stadt. Ich nehme mal an, es war Swinouscije, oben rechts von Usedom.Vermutlich hatte er uns schon eine ganze Weile beobachtet. Jedenfalls, nachdem Kathleen und ich unser letztes Geld einem listigen polnischen Pferdewurstverkäufer gegeben hatten, sprach uns ein blasses Bürschlein an. Ob wir aus der DDR seien? Ob wir etwas Zeit hätten? Ob wir seiner kranken Mutter einen Besuch abstatten könnten, sie spräche besser deutsch und könne uns alles weitere erklären, radebrechte er uns mit niedergeschlagenen Augen sein Anliegen vor.Kathleen und ich sahen uns an. Wir waren jung, wir hatten den Wanst voll mit polnischem Freibankfleisch und wir sahen aus wie Baader/Meinhof.Wir folgten dem Mann auf einen längeren Spaziergang durch hässliche Neubaugettos. Schließlich standen wir vor seiner Wohnungstür. Der blasse Mann schloss auf und wir standen mitten im Elend. Hier war nicht nur die Mutter krank, hier war alles krank, angefangen von den Möbeln über die Suppe auf dem Herd bis hin zu den Seelen der Menschen. Genau bekomme ich die Story nicht mehr zusammen. Es ging um einen Bruder. Entweder den des Bürschleins oder den der Mutter. Dieser lebte in Prenzlau, einer Garnisonsstadt im Brandenburgischen und war Offizier der NVA. Aus irgendeinem Grunde sei der Kontakt zu ihm abgebrochen und aus irgendeinem Grunde wollten sie ihn wieder herstellen. Man zeigte uns ein Familienalbum und erklärte dies und jenes. Kathleen und ich hatten das Gefühl, hier nicht lange bleiben zu können. Wir sagten dann auch, dass unser Bus bald fährt. Auf jeden Fall bekamen wir einen Brief und ein paar Fotos in die Hand gedrückt, und ich versprach, alles bei dem Bruder in Deutschland abzugeben. Dann rannten wir fast aus der Wohnung, weil die Traurigkeit und Verzweiflung, die aus jedem Wort dieser Leute und aus jedem Quadratzentimeter dieser Wohnung schrie, uns den Atem nahm.Ein paar Wochen später, als wir wieder in Deutschland waren, merkte ich, dass ich ein Ekzem am Hintern bekommen hatte. Irgendwie ist das wetterabhängig und bis heute hat es kein Hautarzt wegbekommen. Immer wenn es mich plagt, muss ich an diesen Mann und seine kranke Mutter denken.Übrigens, ein oder zwei Tage nach unserer Rückkehr bin ich mit dem Zug nach Prenzlau gefahren. Irgendwann stand ich dann vor der Tür mit der auf dem Brief vermerkten Adresse. Nachdem ich geklingelt hatte, öffnete ein ehemaliger Mensch, dem der jahrelange Militärdienst jede menschliche Regung aus dem verkniffenen Gesicht geätzt hatte. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit seinen Verwandten in Polen und übergab ihm einen großen Umschlag, in den ich alles getan hatte. Er sah sich das kurz an, dann mich. Und dann gab er mir alles mit der Bemerkung zurück, er brauche das nicht. So, als hätte ich ihm grad beim Haustürgeschäft ein Kilo Scheiße verkaufen wollen. Ich schätze, in dem Augenblick hat sich an meinem Arsch das Ekzem gebildet.Michael Ebeling, Jahrgang 1965, schreibt und liest seine Kurzgeschichten hauptsächlich für das Publikum der Lesebühne "Liebe statt Drogen" im Keller des Zosch in Berlin.