Vor der jungen Pfarrerin mit den großen runden Brüsten, die von sich sagt, das Theologiestudium habe ihr Spaß gemacht, flüchtet der norwegische Schriftsteller Vidme in die Einsamkeit seines Arbeitszimmers, hoffend, dass Gott ihm gnädig sein möge, damit er schreiben kann. Vidme beabsichtigt, ein Buch über den norwegischen Maler Hertervig zu schreiben, vor dessen Himmels- und Wolkenmalerei er das größte Erlebnis seines Lebens hatte. Ein Erlebnis, das etwas mit dem Göttlichen zu tun haben muss. Anders kann er es nicht benennen, obwohl er nicht an Gott glaubt. In seinem eigenen theologischen Zweifel hatte er professionellen Beistand gesucht, jedoch nichts als pragmatische Profanität gefunden.
Im dritten Kapitel seines in Melancholie I und I
holie I und II unterteilten, gleichnamigen Romans kommentiert Jon Fosse mit der Figur seines Alter Egos sein eigenes literarisches Vorhaben: Vidme, der sich für einen Verwandten Hertervigs hält, will mit seiner Kunst ein paar menschliche Geheimnisse aufspüren, die sich in den Wolken verbergen, die der Maler gemalt hat - und genau dieser Versuch liegt mit Fosses Melancholie vor. Da hat sich der Leser schon auf knapp 300 Seiten in die Gedankenwelt eines Künstlerhirns hinein saugen lassen.Dieser beklemmende Sog entsteht durch einen sprachlichen und grammatikalischen Minimalismus, einen stakkatoartigen Sprachrhythmus, formelhafte, repetitive Gedankenmuster eines völlig in seine Innenwelt eingesponnenen Ichs, ohne jegliche begriffliche Abstraktion. Dazu kommt die streng durchgehaltene Innensicht, mit der der Autor die Ereignisse eines Nachmittags und Abends im Leben des jungen, norwegischen Malers Lars Hertervig erzählt, der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte. Quäkersohn, arm, gefördert von einem wohlhabenden Kaufmann seiner Heimatstadt, der das Talent des Jungen erkannte und ihm das Auslandsstudium finanziert, sonderlich gekleidet, den nächtlichen Saufgelagen seiner Malerkollegen fernbleibend - das alles macht ihn zum Außenseiter unter den Kunststudenten. Zwischen Nachmittag und Abend geschieht nicht weniger, als dass eine menschliche Seele in geistige Umnachtung fällt. Quasi in Echtzeit wird der Leser Zeuge einer Katastrophe, die in den Wahnsinn führt. Hertervig liebt die Tochter seiner Vermieterin, die blonde, schöne Helene, ein kaum fünfzehnjähriges Mädchen. Beim Blick in ihre Augen, erkennt er, dass sie das Licht verströmt, das er in seinen Bildern sucht. Doch das Glück dauert nur wenige Augenblicke, denn der Onkel des Mädchens, der eine Sittenwidrigkeit wittert, verlangt, dass der junge Mann sofort auszieht. Der Maler kann nicht begreifen, dass er seine Koffer packen muss, so rein und unschuldig sind seine Gefühle. Planlos zieht er durch die Straßen, landet schließlich in der Künstlerkneipe Malkasten, die er noch nie betreten hat, weil er die Gesellschaft der anderen Maler meidet, die in seinen Augen nicht malen können. Hertervig, den die Abgeschlossenheit seiner Gedankenwelt zu einer Gestalt radikaler Einsamkeit und Kommunikationsunfähigkeit macht, wird zum Spielball seiner Kollegen. Er, der an nichts anderes denken kann als an seine "liebe, liebe Helene" und daran, dass er sie nicht verlieren will, erzählt einem Kollegen von seiner Geliebten. Und er lässt ihn wissen, dass er sich für den einzigen hält, der malen kann. Das genügt bereits, damit sich die versammelte Kneipen-Männergesellschaft gegen ihn zusammen schließt, um ihm eine Lektion zu erteilen. Auf faszinierende Weise gelingt es Fosse, das, was man üblicherweise für einen gemeinen Scherz halten würde, den eine Gruppe einem Außenseiter mitspielt, aus der Perspektive desjenigen, der diesem Scherz völlig schutzlos ausgeliefert ist, darzustellen. Unfähig, die bösartige Absicht seiner Kollegen zu durchschauen, verliert Hertervig schließlich den Verstand.Gemessen an diesem dramatischen Höhepunkt fallen die anderen Teile des Romans notwendigerweise ab. Sie liefern, verkürzt gesagt, den psychologischen, sozialen, kulturellen und historischen Hintergrund, Stoff für die Tragödie eines Ichs und eine Art Urszene der Malerei, ohne jedoch das Rätsel um die Kunst, von der der Maler Hertervig wie besessen ist, völlig zu entzaubern. In der Irrenanstalt - rund ein halbes Jahrhundert bevor Freud seine Sublimationstheorie entwickelte - verbietet man Hertervig zu malen, um ihn von der Melancholie, die der Irrenarzt diagnostiziert hat, zu heilen. Man verwechselt sozusagen das Symptom mit der Ursache des Leidens, was bei dem Patienten zu einem enormen Triebstau führt, dessen Auswirkungen Fosse vor allem von ihrer komischen Seite schildert. Im Schlusskapitel überrascht der Autor noch einmal mit einer unerwarteten Erzählperspektive: Zeitlich schon jenseits der Jahrhundertwende verortet, begleitet der Blick des Erzählers, eine altersschwache, gebrechliche Frau, die Schwester des Malers, auf ihren letzten, beschwerlichen Gängen. Auf der Schwelle zum Tod gleiten ihre Gedanken immer wieder in die Kindheit zurück. Erinnerungen an ihren Bruder werden wach, wenn sie sich auf den Abort begibt, wo sie eine Zeichnung, die er ihr geschenkt hat, aufgehängt hat. Der Leser erfährt, dass Lars Hertervig schon als Kind Wolken gemalt hat - mit einer Art Tinte aus Holzkohle und Wasser auf Treibholz, immer wenn seine Seele von dunklen Erschütterungen ergriffen wurde.Fosses Text ist durchzogen vom immer wiederkehrenden Motiv des Lichts. Es verweist einerseits auf die Lehre der Quäker, die besagt, dass alle Menschen wegen des ihnen gemeinsamen "inneren Lichtes" vor Gott und den Menschen gleich seien. In ihm verschränkt sich außerdem die Frage des Schriftstellers Vidme nach der Existenz Gottes mit der Frage des jungen Lars Hertervig danach, ob er malen könne. Angesichts dessen, dass heute praktisch alles Kunst werden kann und angesichts des Wissens darüber, wie es mit der Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit in Bezug auf das Göttliche bestellt ist, erscheint Fosses Roman geradezu wie ein emphatisches Plädoyer für die Rückbesinnung auf die grundsätzlichen Fragen nach der Kunst, bevor sie von der Moderne entschieden wurden. Dass der Autor damit zur Zeit gerade ziemlich im Trend liegt, sollte einen nicht davon abhalten, seine Bücher zu lesen. Es sei denn, man hat grundsätzlich etwas gegen Pathos und die ewigen, ersten und letzten Fragen. Um die geht es nämlich auch in seinem zweiten, auf deutsch erschienenen (Kurz-)Roman: Morgen und Abend erzählt vom Tod auf eine einfache, schlichte Weise, fast wie ein Kinderbuch. Wieder zeigt sich Fosses Interesse für Übergangszustände, für Zeitstrukturen des Erzählens und Erinnerns: Ein alter Fischer geht auf seine letzte Fahrt, schon halb im Jenseits blickt er auf sein Leben zurück, trifft alte, längst verstorbene Freunde und glaubt erst, dass er gestorben ist, als er die eigene Tochter auf seiner Beerdigung sieht.Jon Fosse: Melancholie. Roman. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel, Kindler Verlag, Berlin 2001. 445 S., 49,90 DMMorgen und Abend. Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, 118 S., 29,14 DM
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