Es hatte alles so schön und versöhnlich begonnen. Fröhlich warfen die Tänzerinnen in Baz Luhrmanns Moulin Rouge ihre langen Beine zu den mit Technomusik aufgefrischten CanCan-Sound der Jahrhundertwende. Nicole Kidman schwebte Diamonds are a girl´s best friends singend in die Arena. Im überladenen Dekor eines illusionären Paris kämpft ein mittelloser Künstler um die käufliche Kurtisane. Dass die altbekannte Liebesgeschichte zwischen dem Schriftsteller (Ewan MacGregor) und dem Star des Moulin Rouge (Nicole Kidman) tragisch endet, hätte den Festivalbesicher allerdings vorwarnen müssen. Denn im Wettbwerb von Cannes sollte bald das große Sterben beginnen.
Ob im spanischen (Marc Recha), portugiesischen (Manoel de Oliveira) oder taiw
l de Oliveira) oder taiwanesischen (Tsai Ming-Liang) Wettbewerbsbeitrag: Überall stand Tod und Verlust im Zentrum. Alexander Sokurov hatte sich bereits in Moloch für die letzten Tagen Hitlers interessiert, diesmal beobachtete er in Taurus den Mythos Lenin beim Sterben. Für den Russen ist der Tod ohnehin, wie er im Interview sagte, "die wichtigste Frage des Menschens, also auch des Kinos". Doch auch die Franzosen zeigten sich morbide: François Dupeyron verhandelte in La chambre des officiers das Schicksal eines jungen verwundeten Leutnants im Ersten Weltkrieg. In Claire Denis´ Trouble Every Day macht sich eine von Béatrice Dalle gespielte Kannibalin über die Eingeweide ihrer Liebhaber her. Der junge Cédric Kahn beschäftigt sich mit dem Serienmörder Roberto Succo. Anders als beim idealisierten Helden im Theaterstück von Bernard-Marie Koltès versuchte Kahn sich an die puren Fakten zu halten. So wird Succos verwirrende Mischung aus Zärtlichkeit und blinder Gewalt ohne psychologische Erklärungen gezeigt: Als eine Rückkehr zu den nackten Tatsachen, wo die Körper - anders als sonst im von Literatur und "cartesianischer" Philosophie beeinflussten französischen Film - eine klare Sprache sprechen.Die japanischen Filme, die im diesjährigen Festival fast in der Überzahl waren, zeigten andere Formen morbider Visionen. Im hochtechnologisierten und bildbesessenen Japan scheint die von Baudrillard prophezeite "Agonie des Realen" längst Wirklichkeit geworden zu sein. In Kiyoshi Kurosawas Kairo steigen mörderische Phantome direkt aus den Computerbildschirmen in das reale Leben, in Shinji Aoyamas Desert Moon bringt sich ein Internet-Unternehmer täglich das frühere Familienleben durch Videos seiner von ihm getrennten Frau und Tochter in Erinnerung. Beim Kultfilmer Mamoru Oshi (seine Animation Ghost in the shell hatte Matrix beeinflusst) jagt die Game-Masterin Ash den Todesengel im Computerspiel Avalon und droht dabei jede Orientierung zu verlieren.Sean Penn wollte in The Pledge (nach der Vorlage Friedrich Dürrenmatts) dem Verlust mit dem amerikanischen Pragmatismus des Krimi-Genres beikommen: Er schickt einen pensionierten Polizisten (Jack Nicholson) auf die Suche nach dem Mörder eines achtjährigen Mädchens. Den Unhold zur Strecke bringen, das Übel aus der Welt schaffen, das ist der klassische Reflex des Retters, der dann rücksichtslos ein kleines blondes Mädchen als Lockvogel benutzt. Am Ende ist Jack Nicholsons blinder Eifer verdampft, desillusioniert sitzt er vor seiner verlassenen Tankstelle und der Serienmörder, den er zur Strecke bringen wollte, ist längst bei einem Autounfall verbrannt: Abkürzung in die Hölle?Auch in David Lynchs Mulholland Drive kommt die Geschichte nach einem Autounfall ins Schleudern. Der Regisseur hat nach der linearen Straight Story wieder zu seinen beunruhigenden zwielichtigen Bildern zurückgefunden, in denen sich Traum und Realität, diffuse Erinnerung und zweifelhafte Gewissheiten überlagern. Rita (Laura Elena Haring) flieht nach einem Unfall vor einer bedrohlichen Vergangenheit in die Wohnung von Betty (Naomi Watts), die blauäugig von einer Karriere in Hollywood träumt. Wie sich die beiden Frauen immer stärker ineinander verstricken, wie sich die Amnesie der einen und der naive Zukunftsglaube der anderen beeinflussen - daraus macht Lynch ein eigenwilliges Porträt Hollywoods, das auf Bergmans Persona und Hitchcocks Vertigo anspielt. Dafür gab es in Cannes den Regiepreis, den sich Lynch mit dem überstilisierten und trägen Eifersuchtsdrama The man who wasn´t there der Coen-Brüder teilen musste.Wenig verwunderlich, dass auch die großen Gewinner von Cannes das Thema Tod und Verlust ausloteten. Michael Haneke hat mit präzisem Blick auf die "Vergletscherung der Gefühle" die Klavierspielerin Elfriede Jelineks verfilmt. Isabelle Huppert spielt die Vierzigjährige, die immer noch bei ihrer Mutter lebt. Ihre unterdrückte Sexualität versucht sie voyeuristisch in Porno-Kinos und Strip-Shows auszuleben. Als eines Tages einer ihrer Schüler sie verführen will, kollidieren Begierde und Selbstkontrolle. Haneke treibt die Körper an die Grenze des Erträglichen. Libération jubelte, dass die Figuren sich nicht durch Psychologie, sondern durch ihre Ausscheidungen definieren: Sperma, Spucke, Kotze, Blut, Urin. Andere dagegen fühlten sich von Haneke ein weiteres Mal vergewaltigt. Dabei vermeidet Haneke den pornografischen Blick und entgeht jeder Vulgarität, indem er ihn bloß zitiert. Für das minutiöse Wechselspiel zwischen Zurückhaltung, Gewalt, Macht, Frust und Lust bekamen Benoît Magimel und Isabelle Huppert den Darstellerpreis. Und Haneke wurde für sein radikales Werk mit dem Grand Prix ausgezeichnet.Anders als der analytische Haneke mit seiner Skalpell-Kamera setzt sich Nanni Moretti in La stanza del Figlio mit den Folgen des Verlust eines geliebten Menschen auseinander. Als die glückliche Kleinfamilie ihren Sohn bei einem Tauchunfall verliert, droht sie zu zerfallen. Die Mutter Paola (Laura Morante) lässt den Schmerz in Tränen nach Außen, während sich ihr Mann Giovanni (Nanni Moretti) in Selbstvorwürfen ergeht und mit verhangenem Blick die Vergangenheit wiederbeleben will. In kurzen lakonischen Szenen und einer klassischen Regie vermeidet Moretti die Fallen des Sentimentalismus und macht Trauer und Schuldgefühle an kleinen Details sichtbar: Ein zerfallender Gemüseauflauf spricht für sich. Für diese einfache, aber wirkungsvolle Tragödie, die schon in Italien einen flächendeckenden Weinkrampf ausgelöst hatte, holte auch die Jury unter ihrer Präsidentin Liv Ullmann die Taschentücher hervor und verlieh prompt die Goldene Palme. Auch wenn Lynch auf seinem Mulholland Drive kunstvoller und komplexer in die düsteren Zonen vom Verlust der Erinnerung eingedrungen war, die dieses Jahr in Cannes die Kinoleinwand zur Klagemauer gemacht hatten.