Vor einigen Tagen wurde die 90-jährige Hildegard Hamm-Brücher gefragt: „Welche Politikerin aus dem Jahr 2012 erinnert Sie an die Hildegard Hamm-Brücher von früher?“ Die wohl unerschrockenste Liberale der FDP-Geschichte antwortete kurz und klar: „Claudia Roth. Die ist mutig und lässt sich nicht kleinkriegen.“ Die Kollegen (selten Kolleginnen) vieler Medien, die sich periodisch in Claudia-Roth-Porträts ergehen, dürften kurz gezuckt haben, als sie das Interview im Magazin der Süddeutschen Zeitung lasen. Das Lob wollte so gar nicht passen zu dem Roth-Bashing, das Teile des Berliner Politik-Betriebs nebst medialer Gefolgschaft zu betreiben pflegen.
Die Grünen, die noch vor einem Jahr als kommende Volkspartei galten und ihren ersten Ministerpräsidenten ins Amt hievten, müssen sich neu sortieren in einer politischen Landschaft, die nun doch wieder ziemlich unübersichtlich aussieht. Die Piraten mischen den Laden derart auf, dass CDU-Kommunikator Peter Altmaier die Grünen bereits in schwerem Wasser verortet – was allerdings auch einfach seinen Wünschen entsprechen dürfte. Doch bleibt den einstigen Ökos ein Jahr vor der Bundeswahl tatsächlich die Aufgabe, ihren Kurs zwischen Macht, Pragmatismus und politischen Zielen zu bestimmen. Und Parteichefin Roth hat bereits kundgetan, dass sie dabei den Ton angeben will.
Machtgesteuerte Politik
Vor wenigen Tagen stoppte sie erfolgreich das Ansinnen von Fraktionschef Jürgen Trittin, als alleiniger Spitzenkandidat in die Bundestagswahl zu ziehen. Was bei männlichen Politikern als Ausweis strategischer Klugheit gewertet worden wäre, zeitigte bei Roth geradezu boulevardeske Kommentare: „Zumindest diese goldene Feder kann sich die Parteivorsitzende Roth in den blond-rot-orangefarbenen Kopfschmuck heften“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Da wirkte FDP-Stehaufmännchen Christian Lindner mit seiner Wertung geradezu seriös: „Der Politikertyp Claudia Roth lenkt freie Bürger mit erhobenem Zeigefinger, als wären sie Kinder.“
Weitgehend einig sind sich Kritiker und Anhänger über Roths Platzierung im politischen Spektrum: Sie folgen der verbreiteten Vorstellung, die Parteichefin verkörpere so etwas wie den linken Flügel der Grünen, zumindest jedenfalls die grüne Tradition einer unbeirrbar eigenständigen, von Machtverhältnissen nicht einzuschüchternden Haltung. Zu diesem Schluss mag kommen, wer sie nach ihrem bisweilen emotionalen Sprachstil und Auftreten beurteilt. Doch erweist sich die Vorstellung von den Flügeln der grünen Partei insgesamt als kaum noch tragfähiges Klischee. „Linke“ und „Realos“ rudern gemeinsam im Fahrwasser einer machtgesteuerten, Haltungen und Werte relativierenden, mit einem Wort: etablierten Politik.
Als Roth sich ihre jüngste „goldene Feder“ verdiente, ging es nicht etwa gegen einen Realpolitiker, sondern gegen Jürgen Trittin, der wie Roth dem linken Parteiflügel zugerechnet wird. Natürlich war und ist der Anspruch, die Spitzenkandidatur zu quotieren, statt sie einem Mann allein zu überlassen, ein politischer. Aber ein Dissens über politische Inhalte, die das Duo dann im Wahlkampf vertreten soll, ist nicht zu erkennen.
Gemeinsam mit Co-Fraktionschefin Renate Künast und dem Co-Parteivorsitzenden Cem Özdemir, also dem „Realo“-Anteil im Spitzenquartett, stoppten Roth und Trittin beim Parteitag im November alle Versuche zu einer vorsichtigen Verschärfung der Programmatik. Vor allem das Symbolthema „Spitzensteuersatz“ behandelte die Partei, im Gleichschritt mit der SPD, ziemlich realpolitisch: Die Forderung der Partei beläuft sich auf 49 Prozent. Den Versuch, einen Satz von 53 Prozent zu beschließen, blockte das Führungsquartett ganz flügelübergreifend ab. Und angesichts grüner Zustimmung zur schwarz-gelben Energiewende war es nur noch Folklore, als Roth dem Parteitag zurief, Merkels Politik sei „das Gegenteil von einem glaubwürdigem Ausstieg“. So geschehen am Samstag, dem 26. November in Kiel. An diesem Tag beklatschten die Delegierten nicht nur Claudia Roth vom „linken“ Flügel, sie feierten mit noch mehr Begeisterung den bisher erfolgreichsten Realo aller Zeiten nach Joschka Fischer: Winfried Kretschmann. Schon einen Tag später allerdings begann Deutschlands erster grüner Ministerpräsident dem Land und der Partei zu zeigen, was von grüner Realpolitik zu erwarten ist.
Am 27. November fand in Kretschmanns Heimatland Baden-Württemberg die Volksabstimmung über Stuttgart 21 statt. Sie endete bekanntlich – nach einer beachtlichen Materialschlacht der ganz großen Koalition aus CDU, SPD, FDP, Deutscher Bahn und örtlicher Wirtschaftslobby – mit einer klaren Niederlage der Tiefbahnhof-Gegner. Spätestens an diesem Abend wurde aus dem Hoffnungsträger Kretschmann eine Symbolfigur grüner Machtpolitik. Und von niemandem aus der Parteiführung hat man je gehört, dass er oder sie dem Schwaben in den Arm gefallen wäre.
Kretschmann stand, oberflächlich betrachtet, vor dem klassischen Dilemma zwischen Grundsatztreue und Machtsicherung. Und er hat sich auf erschreckend eindeutige Weise entschieden. Nun wird niemand behaupten, dass ein Ministerpräsident das Votum der Bevölkerung hätte ignorieren sollen. Kretschmann hat Recht, wenn er darauf verweist, er müsse die von seinen Vorgängern für das Land geschlossenen Verträge nun einmal achten, erst recht nach Billigung durch das Volk. Aber er geht viel weiter: Er nutzt den Bürger-Entscheid, um jede Fortsetzung des friedlichen Widerstands als Ausweis mangelnder demokratischer Gesinnung zu verurteilen. Er spitzt das Dilemma zu, bis es scheint, als bliebe einem Demokraten nach dem Referendum kein Raum mehr für Vorbehalte.
Selbst der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, beileibe kein Linker bei den Grünen, übt leise Kritik am Regierungschef: „Dass man in der Sache auch jetzt noch deutlicher sagen könnte, wo das Projekt Schwächen hat, das sehe ich auch so.“ Aber er fügt, nun wieder ganz auf Kretschmann-Linie, hinzu, „dass dann von der anderen Seite immer wieder der Vorwurf käme: Ihr akzeptiert das Ergebnis des Volksentscheids nicht.“
Das trifft genau den Kern der grünen Strategie: Statt sich dem Konflikt mit dem Koalitionspartner SPD zu stellen (wer sagt, dass nicht genau das auch Wähler überzeugen könnte?), stellt sie sich lieber selbst auf die „andere Seite“ – aus vorauseilender Angst um die Macht.
Fritz Kuhn, der im Oktober für das Stuttgarter Oberbürgermeister-Amt kandidiert, appellierte kurz vor der Baumfäll-Aktion an der Tunnelbaustelle: Da viele Fragen noch ungeklärt, Aufträge noch nicht vergeben seien, möge die Bahn doch freiwillig noch einen Sommer lang warten. Fragt man in Kretschmanns Umfeld, warum der Ministerpräsident nicht wenigstens dasselbe tat, gibt es keine inhaltliche Antwort, sondern nur diese: „Das hätte die SPD nicht akzeptiert.“
Das Dilemma zwischen Machtinteresse und Grundsatztreue, wenn es denn ein Dilemma ist, wird sich nie auflösen lassen. Aber so wie einst das fundamentale Nein zu jeder Machtbeteiligung in die Irre ging, so fundamentalistisch kommt jetzt die einseitige Orientierung am Machterhalt daher.
Dabei hat schon das Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl in Berlin gezeigt, dass das rein machtarithmetische Politikverständnis auch den Erfolg gefährdet: Künasts viel zu lange durchgehaltener Versuch, sich die Tür zu Schwarz-Grün durch programmatische Unschärfe offenzuhalten, führte bekanntlich in die Pleite. Und ausgerechnet Kretschmann – der Kretschmann vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten – darf als positives Gegenbeispiel dienen: Er verdankt den entscheidenden Vorsprung vor der SPD ganz sicher dem damals noch konsequenten Nein zu Stuttgart 21.
Altbekannte Gesichter
Die altbekannten, vielleicht allzu altbekannten Gesichter an Partei- und Fraktionsspitze der Grünen stehen längst nicht mehr für die Wahl zwischen edlem oder fundamentalistischem Festhalten an Grundsätzen oder machtbesessener Realpolitik. Trittin, der vermeintlich „Linke“, macht nicht den Eindruck, als würde er sich im Zweifelsfall anders verhalten als Oberrealo Kretschmann. Und auch Roth ist, ihrem lebhaften Pathos zum Trotz, noch jeden Anpassungsschritt der Grünen mitgegangen, von Hartz IV über Afghanistan bis hin zu Energiepolitik und Spitzensteuersatz.
Die Chancen für eine rot-grüne Bundesregierung stehen nicht gut. Sie würden wahrscheinlich steigen, wenn die Grünen (und die SPD) mit klaren, auch mal radikaleren Alternativen zu Schwarz-Gelb zu überzeugen versuchten. Nicht steigen werden die Chancen, wenn die Kompromisse der Zukunft vor lauter Fixierung auf das Phantom der Mitte schon im Wahlprogramm stehen. Kompromisse gehören in Koalitionsverträge. Und wer so weit kommen will, sollte erst mal eigene Positionen haben. Das wäre, im Sinne von Hildegard Hamm-Brücher, dann auch „mutig“.
Boris Palmer gibt sich gerne als frecher Rebell. Wie vergangene Woche, als der 39-Jährige den Regierungswillen der SPD in Baden-Württemberg anzweifelte. Oder während der Proteste gegen Stuttgart 21, die er maßgeblich mit anführte. Nach dem Volksentscheid lenkte der Tübinger Oberbürgermeister aber ein: Das Kapitel sei definitiv vom Tisch. Da kommt wieder der Realo durch. Einst forderte er das Grundeinkommen, jetzt nur noch Grundsicherung. In Machtfragen denkt der ehemalige Waldorfschüler ganz pragmatisch und macht sich für schwarz-grüne Koalitionen stark.
Lisa Paus, grüne Obfrau im Finanzausschuss des Bundestags, ist eine Arbeiterbiene. Seitdem sie sich aus einem kleinen Dorf in Niedersachsen nach Berlin aufgemacht hat, tüftelt die 43-Jährige an einer gerechteren Finanzpolitik: Als Lehrbeautragte für Volkswirtschaft an der FHW, als wirtschaftspolitische Sprecherin im Abgeordnetenhaus, dann im Finanzausschuss. Die Diplomvolkswirtin kämpft für eine Vermögensabgabe, derzeit arbeitet sie an einem Konzept für eine höhere Erbschaftssteuer. In die Welt der Zahlen kniet sie sich hinein, denn sie weiß: Finanzpolitik bedeutet Macht.
Sven Giegold ist in der Krise ganz in seinem Element. Als begehrter Medien-Ansprechpartner fordert der 42-Jährige die Transaktionssteuer. Das tat er schon als Mitglied von Attac, dessen deutschen Ableger er mitbegründet hat. Sein theoretisches Rüstzeug holte sich Giegold in Lüneburg, Bremen und Birmingham, als er Erwachsenenbildung, Politik und Ökonomie studierte. 2008 trat er den Grünen bei und wurde ein Jahr später ins EU-Parlament gewählt. Innerhalb der Partei macht er sich stark für einen Green New Deal, einem ökologischen Umbau des Kapitalismus.
Ekin Deligöz hat die klassische Ochsentour durch die Partei hinter sich. Mit acht Jahren kam sie aus der Türkei nach Deutschland, trat als Schülerin bei den Grünen ein, baute die Grüne Jugend in Bayern auf. Dann: Vorsitzende des Bezirksverbands Schwaben, Bundestagsmandat, Vize-Fraktionschefin. 2006 forderte Deligöz Musliminnen in Deutschland auf, das Kopftuch abzulegen.
(Kurzporträts: Benjamin von Brackel; Fotos: Grüne Bundestagsfraktion (2), DPA, Getty Images)
Kommentare 7
danke für den artikel.
mal wieder eine gute idee über grüne nachzudenken. wobei ich eingestehe und da hilft der artikel in keinster weise, dass ich zwar lese: "auf der Suche nach einem überzeugenden Kurs" aber denke "auf der suche nach einer verkaufbaren taktik" mit restinhalt, den man je nach dem genauer nimmt oder nicht und zudem selten wirklich (noch?) links ist.
die mehrwertsteuer auf transaktionen scheint mir fast der letzte links blinker zu sein, mit dem man noch winken kann und der nicht nur von taktik besetzt sein muss.
Bevor ich den Beitrag lese behaupte ich schon mal, dass auch die führenden Grünen ihren Platz mit aller Macht verteidigen! Da wollen Leute vorne bleiben - auch wenn es kein anderer will (siehe Roth und Künast)!
Roth, Trittin, Künast und Kuhn kämpfen mit einer unglaublichen Verbissenheit um ihre "Führungsposition". Die Kommentare über die Wahlerfolge der Piraten-Segler wirken wie die abfälligen Bemerkungen von Schmidt, Strauß und Co über die Grünen als sie ins Bonner Parlament einzogen. Und ausser den bekannten Namen gibt es kaum etwas von jüngeren Grünen zu vernehmen. Wird der Nachwuchs ausgebremst? Christine Scheel war auch eine gute "Haushälterin". Das führte aber nicht dazu, dass sie ein stärkeres Gewicht in der Führungs/Debattenebene bekam. Abgang in die freie Wirtschaft. Und irgendwie vertritt Frau Roth das grüne Klientel, das es sich leisten kann Grün zu wählen: SUV vor dem Biomarkt, Solarzellen auf dem Dach des Landsitzes. Es mutet geradezu bequem an, die Fragen zur Umsetzung des Ausstiegs aus der Kernenergie der Regierung zu überlassen. Die wollen das, also sollen sie es machen. Wir begleiten es mit Kritik! Und wenn wir an die Macht kommen....
Die Kritik an der "machtgesteuerten" Politik der Grünen führt an der Sache vorbei: Selbstverständlich braucht man Macht, um Entscheidungsprozesse zu beeinflussen und Gesetze zu verändern! Zur Ausübung von Macht werden Mehrheiten benötigt - soweit lässt sich das "realpolitische" Denken der Grünen nachvollziehen. Die Frage ist allerdings, wo diese Mehrheiten zu finden sind. Zahlreiche Umfragen, nicht nur in Deutschland, zeigen, dass viele Menschen unzufrieden sind mit einer neoliberalen Politik, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht und die Naturgrundlagen zerstört.
Für einen ökosozialen Umbau könnten heute Mehrheiten gewonnen werden. Voraussetzung dafür ist zum einen, dass Politikerinnen und Politiker mit Überzeugung und Mut für ihr Programm einstehen. Zum anderen müssen sie bereit sein, sich auf den Dialog mit dem Volk einzulassen. Der kometenhafte Aufstieg der Piratenpartei bringt das Misstrauen vieler, vor allem junger, Menschen zum Ausdruck, die den Eindruck haben, die politische Kaste agiere vollkommen abgehoben von dem, was die Gesellschaft bewegt.
Das Beispiel von Ministerpräsident Kretschmann zeigt leider, dass da einer nicht die Courage besitzt, den ursprünglichen Dissens gegen ein megalomanisches Projekt wie "Stuttgart 21" durchzuhalten - selbst wenn die Volksabstimmung vom November 2011 anders als erhofft ausgegangen ist. Stephan Hebel kritisiert hier mit Recht, dass die kritischen Stimmen innerhalb der Grünen zu Kretschmanns Politik allzu verhalten klingen. Es ist zu wünschen, dass die Bürgerinnen- und Bürgerbewegung gegen S21 stark genug bleibt, um die Grünen in dieser Sache zu Kurskorrekturen zu bewegen.
Die Grünen sind inzwischen genau so, wie SPD/CDU/CSU/FDP !!!
Da klammern sich ein paar Leute an ihre Führungspositionen und natürlich an die Macht!
@lisi stein
"Und ausser den bekannten Namen gibt es kaum etwas von jüngeren Grünen zu vernehmen."
Bei den Berliner Grünen - sicher nicht der bedeutendste LV - zeichnet sich aber eine personelle Verjüngung ab. Vielleicht ein Anfang?
Ein Beitrag, den ich sehr gerne gelesen habe!
Zu ein paar Einzelpunkten folgendes:
"Die Kollegen (selten Kolleginnen) vieler Medien, die sich periodisch in Claudia-Roth-Porträts ergehen, dürften kurz gezuckt haben.."
Die zucken auch bei Hildegard H-B. -:)
"Die Grünen, die noch vor einem Jahr als kommende Volkspartei galten und ihren ersten Ministerpräsidenten ins Amt hievten.."
Also: in BW stärker als die SPD zu sein, ist bei dieser Gurkentruppe keine allzu große Leistung. Trotzdem waren es "nur" ca. 24 Prozent. Wären die Grünen aber als "Volkspartei" aus den Wahlen hervorgegangen, hätten wir jetzt nicht das Problem mit den SPD-Zombies, von denen einige mehr braun als rot erscheinen. Der grüne Aufbruch war Medienhype und Wunschdenken. Die Realität sah nach absoluter Ausnahme aus: S21, Fukushima, Mappus-Atomkurs, Mappus. Und in der Regel ist es doch wohl auch so, dass nicht eine neue Regierung gewählt, sondern eine alte abgewählt wird. Ausser Grün gab es aber nichts, was ein einigermaßen vernunftbegabter Mensch als Alternative hätte wählen können. Für S21-Gegner war es das kleinere Übel. Man sollte das aber nicht bundespolitisch überbewerten, auch wenn es für BW eine kleine Revolution und für den Bund ein Dammbruch war.
"„Linke“ und „Realos“ rudern gemeinsam im Fahrwasser einer machtgesteuerten, Haltungen und Werte relativierenden, mit einem Wort: etablierten Politik."
Das ist wohl das übliche Ergebnis politischer Sozialisation im System und es spricht für die Piraten, dass einer von ihnen jüngst genau dies auch für die eigene Partei vorausgesagt hat - mit dem Hinweis, dann würden sich eben wieder neue Parteien gründen.
Die Frage ist, ob das auf Dauer gut geht. Oder ob der grüne Versuch, die o.g. , bis dahin innerparteiliche, Sozialisation durch eine Parteigründung zu vermeiden, am Ende dazu führt, dass wir zu viele Amateure im politischen System haben. Die Grünen haben in dieser Hinsicht noch eine offene Frage vor sich: sind sie jetzt eine "normale" Partei, bei der der eigene Nachwuchs für Änderungen und neuen Aufbruch sorgt? Oder waren sie nur eine Zeitgeist-Erscheinung, eine grüne Warze am System sozusagen, die demnächst von den Piraten abgelöst wird?
Und nun zu Kretschmann:
"Aber er geht viel weiter: Er nutzt den Bürger-Entscheid, um jede Fortsetzung des friedlichen Widerstands als Ausweis mangelnder demokratischer Gesinnung zu verurteilen. Er spitzt das Dilemma zu, bis es scheint, als bliebe einem Demokraten nach dem Referendum kein Raum mehr für Vorbehalte.....so fundamentalistisch kommt jetzt die einseitige Orientierung am Machterhalt daher."
Genau das ist der Punkt. Und da zeigt sich eine demokratisch-rechtsstaatliche Skrupellosigkeit, die allenfalls noch durch die Jamaika-Sache im Saarland übertroffen wird. Ein Problem dabei dürfte sein, dass Kretschmann als Person zutiefst autoritär und fundamentalistisch ist. Nicht umsonst fühlt er sich ausgerechnet dem CDU-Fundamentalisten Teufel geistesverwandt. Und dann kommt noch der BW-Faktor dazu: genau danach scheint sich nämlich die Mehrheit nach dem pubertären Mappus gesehnt zu haben. Erwünscht scheint wieder der autoritäre Landesvater. Und den kann im Moment nur Kretschmann bedienen. Und er tut es. Also macht ausgerechnet das gänzlich Ungrüne Kretschmann (und die Partei?) nun ausgesprochen populär. Darin ist er Schröder und Fischer ähnlich.
Mir der grünen Bundespartei muss das aber noch nicht viel zu tun haben. Ebenso wenig mit dem grünen Fußvolk in BW. Bei denen liegt es nun, die Programmatik grün (und links) zu halten. Das dürfte aber erst eine Chance haben, wenn ein massiver Machtverlust eingetreten ist. Und selbst dann kann man - siehe FDP - alles nur noch falscher machen.....
p.s. Dass Kretschmann jemals verlässlich und überzeugend gegen S21 gewesen sei, habe ich so nicht wahrgenommen. Da hat wohl eine Werbeagentur im Wahlkampf stark überzeichnet. Und Kretschmann hat seine diesbezüglichen "Wahlversprechen" ja auch umgehend als "Fehler" bezeichnet. Und dass die Machtverhältnisse insgesamt für eine Fortsetzung von S21 sprachen, war vor der Wahl auch für jeden erkennbar, der erkennen wollte. Es gab keine Chance, aber sie wurde trotzdem genutzt. Und S21 muss auch nicht unbedingt mit grüner Programmatik kollidieren....
Das aber tut die Atom-Politik. Und wenn man auf die schaut, dann wird ein grüner Kurs ebenso sichtbar, wie erkennbar wird, dass der Machtwechsel halt doch etwas geändert hat. Denn nun können endlich einige ENBW-Schweinereien aufgearbeitet werden, die schwarz-gelber Filz unter der Decke halten wollte (Ähnlichkeiten mit dem Fukushima-System dürften nicht zufällig sein):
www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kernkraftwerk-philippsburg-kaskadenversagen-im-reaktor.b56e2644-af84-499a-9868-b73139bdf05e.html
Lektüre empfohlen!
Und hier wird ein weiterer Grund sichtbar, weshalb die Grünen Ruhe an der S21-Front haben wollen: weiterer Widerstand gegen S21 würde GRÜNE POLITIK in BW ERSCHWEREN. Er würde zu viel Energie verzehren und die Grünen zusätzlich ins Zentrum eines Medien-Dauer-Beschusses katapultieren. Kretschmanns Machtpolitik hat also auch grüne Gründe.