28. GRENZLANDFILMTAGE Am Rand des alten Westens entstanden, droht in der Mitte des neuen Europa der Bedeutungsverlust. Das Filmfest in der oberfränkischen Kleinstadt schaut auf die Region und entdeckt die tschechischen Nachbarn
Es gibt sie immer noch: Nachdem die alten Macher der Grenzlandfilmtage im oberfränkischen Porzellanstädtchen Selb im vergangenen Herbst das Handtuch warfen, fanden sich im Dezember neue Organisatoren. Eine erste Kostprobe gab das "Reformteam", wie es das Selber Tagblatt in süffisanter Anlehnung an andere große Erneuerungsvorhaben unserer Zeit bezeichnete, mit der Durchführung der 28. Auflage des traditionsreichen Filmfestivals Anfang des Monats. Die Grenzlandfilmtage, deren Gästeliste in der Vergangenheit illustre Namen wie Martin Sulik, Krzysztof Kieslowski und Aki Kaurismäki verzeichnete, starten damit in ihr zweites Leben.
Das erste Leben ist eine Geschichte mit Höhen und Tiefen. Als das Festival 1977 gegründet wurde, war es, lange bevor Mauer
lange bevor Mauerfall, Samtene Revolution und EU-Erweiterung den Blick der westdeutschen Kulturelite Richtung Osten lenkten, das erste bundesdeutsche Filmfestival, das sich schwerpunktmäßig dem osteuropäischen Kino zuwandte. Der Blick über die Grenze lag nahe: Von Selb waren es 30 Kilometer bis zur Grenze, hinter der sich die DDR verbarg, und nur 5.000 Meter bis zur Tschechoslowakei. Nach der Wende etablierten sich mit Cottbus und Wiesbaden zwei Konkurrenten in der Osteuropa-Ausrichtung, die mit erheblich größeren Budgets ausgestattet waren und damit eine kontinuierliche Arbeit garantieren konnten, während Selb seit jeher auf ehrenamtliches Engagement angewiesen war. 2004 eskalierte die Krise des Übergangs; am Ende verzichteten die Macher, die größtenteils in Berlin lebten, auf eine Fortführung des Festivals.Die Filminteressierten, die sich ein paar Monate später in einem neuen Trägerverein mit dem etwas umständlichen Namen "Verein zur Förderung grenzüberschreitender Film- und Kinokultur" zusammenfanden, kommen nun fast ausschließlich aus Selb und Umgebung. Entsprechend viel lokalpatriotische Vorschusslorbeeren für das neue Team um den Hofer Marketingfachmann Utz Reich gab es auf der Eröffnungsveranstaltung von der örtlichen Politprominenz. Rudolf Pruchnow, dritter Bürgermeister der 17.000-Einwohner-Stadt, sprach eine Woche nach Ostern von einer "Wiederauferstehung" und sagte der renommierten Kulturveranstaltung die weitere Unterstützung durch die Stadt zu.Mit Jiri Knedlík, dem zweiten Bürgermeister von As, sprach erstmals ein Redner aus der tschechischen Nachbargemeinde zur Eröffnung der Grenzlandfilmtage. Die Idee, künftig verstärkt auf eine deutsch-tschechische Zusammenarbeit zu setzen, stieß bei Knedlík auf offene Ohren. Im Kulturzentrum der böhmischen Kreisstadt wurde vor vollem Haus der Dokumentarfilm Carpatia gezeigt. Das zumeist jugendliche Publikum reagierte mit langem Beifall auf die Ankündigung, im nächsten Jahr mehr Vorstellungen in dem nur sieben Autokilometer, aber etliche Warteminuten an der Grenze entfernten As durchführen zu wollen und darüber hinaus die Zusammenarbeit mit den tschechischen Filmfestivals in Plzen und Karlovy Vary zu suchen.Damit steht die Vision eines Zweiländerfestivals im Raum, für Knedlík eine Chance anzuknüpfen, an die "engen Beziehungen, die unsere Vorfahren miteinander gehabt haben". Die Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in der Grenzregion war in den neunziger Jahren durch den wirtschaftlichen Niedergang, die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins preiswertere Tschechien und einen kurzsichtigen Umgang mit den historischen Lasten - deutsche Besatzung und Terror von SS und Wehrmacht, Benes-Dekrete und Vertreibung - auf beiden Seiten getrübt. Die Zurückhaltung, die in der Vergangenheit auf der politischen Ebene vor allem von deutscher Seite zu spüren war, wirkte bis zum alten Team der Grenzlandfilmtage. Eine engere Zusammenarbeit mit den Nachbarn stand erst 2004 wieder auf dem Plan, als einige Filme auch im egerländischen Cheb zu sehen waren. Ein Anfang, auf dem die neue Leitung um Utz Reich aufbauen kann, zumal das Interesse am böhmischen Nachbarn heute weit über den berüchtigten Tank-Tourismus hinausgeht, was die Einrichtung von Tschechisch-Kursen für Kinder an der Selber Volkshochschule zeigt. Wie zaghaft die Nachbarschaftspflege gedeiht, kann man am Programmheft der Filmtage erkennen: In tschechischer Sprache gehalten ist allein, aber erstmals, der Veranstaltungszeitraum.Eröffnet wurde das diesjährige Festival mit Holger Borggrefes Willkommen im Club, einer Arbeitslosensatire, deren schwarzhumorige Ansätze vielen Kinobesuchern aus dem Herzen sprachen. Schließlich hat hier, wo in den letzten Jahren ein großer Teil der Arbeitsplätze in der traditionsreichen Porzellanherstellung abgebaut wurde, fast jeder die Folgen des wirtschaftlichen Abstiegs mittragen müssen. Borggrefes Protagonisten trotzen ihrem vermeintlich unausweichlichen Schicksal mit Würde, einer Würde, die auch von den Rednern der Eröffnungsveranstaltung der Grenzlandfilmtage mehrfach angesprochen wurde. Günther Pöhlmann, Marketingleiter der Sparkasse Fichtelgebirge, einem der Hauptsponsoren des Festivals, sprach von einer "Region der Mutmacher", und so kam die regionale Verpflichtung des Filmfestivals ein weiteres Mal auf den Themenindex.Nach der Entscheidung, das Festival fortzuführen, blieben den neuen Organisatoren lediglich drei Monate, um geeignete Filme zu finden. Bei der Programmgestaltung konnte man auf die Hilfe von Mitgliedern des alten Teams zurückgreifen. So fanden Regisseure wie der Schweizer Autorenfilmer Clemens Klopfenstein und der Franzose Vincent Dieutre ihren Weg nach Selb, wenn auch das internationale Format des Festivals nach dem Bruch neu gefunden werden muss. Die Zeit der kontroversen Diskussionen etwa, als hier Wenzel Storch seinen Sommer der Liebe vorstellte oder als der serbische Kultregisseur Dusan Makavejev zu Gast war, sind vorbei. In der internationalen Festivalszene hat das Festival stark an Bedeutung eingebüßt, und so wird das nächste Jahr zu einer erneuten Bewährungsprobe, wenn aus dem breiten Spektrum, das in diesem Jahr von einer Dokumentation über das Böttcherhandwerk an der amerikanischen Ostküste bis zu dem sensibel inszenierten russischen Gesellschaftsdrama Der Italiener reichte, ein aussagekräftiges inhaltliches Profil entstehen soll.Utz Reich jedenfalls ist optimistisch, die anstehenden Probleme - dazu gehört auch die Unsicherheit über den Weiterbetrieb des Selber Kinocenters, dessen Pachtvertrag Ende März ausläuft - lösen zu können, und betrachtet man die Energie, mit dem die Macher ihr Festival in kürzester Frist auf den Weg brachten, scheint dieser Optimismus nicht unberechtigt.
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