Ein produktiver Widerspruch Trotz Rezession werden in Polen aufwändige Filme gedreht, die ein Massenpublikum finden, aber auch die Tradition des kleinen Autorenfilms wird fortgesetzt
Eigentlich hat das etwas von Wahnsinn. Aber gerade das ist es ja auch, was dieses Land und deren Künstler uns so sympathisch macht. Schon seit Jahren geht es Polen wirtschaftlich nicht gut. Längst hat dort niemand mehr Angst, die Wahrheit auszusprechen und das hässliche Wort Rezession in den Mund zu nehmen. Dem Land geht es schlecht - und was machen die Filmleute? Nicht jammern, sondern teure Filme drehen! Fast trotzig tun sie das, denn längst ist es eine traurige Gewissheit: Die arroganten Nachbarn, zum Beispiel die jenseits von Oder und Neisse, interessieren sich für diese Filme keinen Deut. Teure Filme für den beschränkten nationalen Markt. Geht denn das überhaupt?
Da hat ein Regisseur, der im nächsten Januar 80 wird, den Plan, Henryk Sienkiew
k Sienkiewiczs Roman Quo vadis zu verfilmen, zum ersten Mal in Polen und ausschließlich mit polnischem Geld. Er schreibt das Buch und dreht als 79jähriger für 18 Millionen Dollar einen Dreistundenfilm. Hierzulande hätte eine solche Produktion ganz gewiss das Doppelte gekostet, in Hollywood das Drei- bis Vierfache. Der Mann, Jerzy Kawalerowicz, hat seit fast zwanzig Jahren keinen großen Film mehr realisieren können. Seine letzte Arbeit aus dem Jahre 1995 war ein Flop wie die anderen nach Austeria (1982) auch. Und trotzdem!Der Amerikaner Ridley Scott war 63, als er Gladiator drehte, einen Film, den man in seinen Ausmaßen mit Quo vadis vergleichen könnte. Und Mervyn LeRoy, der Regisseur der berühmtesten Quo vadis-Verfilmung war 51, als er in Rom seine Version drehte. Ein Vergleich zwischen beiden Filmen ist nicht ohne Reiz - immerhin liegen zwischen ihnen fünfzig Jahre. Interessant ist, wie die Besetzung, die Schauspieler einen Film verschieden akzentuieren können. Bei LeRoy dominierte eindeutig Peter Ustinov als Kaiser Nero. Bei Kawalerowicz dagegen ist es Boguslaw Linda in der Rolle des zynischen Petronius. Allenfalls Franciszek Pieczka kann es als Apostel Petrus mit ihm aufnehmen. Ansonsten läuft natürlich auch in der modernen Fassung alles auf die Szene in der römischen Arena zu, wo Kaiser Nero und sein Volk die Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen haben sollen. Das inszeniert Kawalerowicz bravourös mit all den Mitteln, die dem modernen Actionkino heute zur Verfügung stehen.Quo vadis ist das herausragende, bisher letzte Beispiel eines aufwändigen polnischen Kinos, das sich fast ausschließlich auf die eigene klassische, große Literatur stützt - bei weitem aber nicht das einzige. Bis zur Wende stand in der durchgängig geführten Besucherstatistik stets ein Film unangefochten an der Spitze: Aleksander Fords Sienkiewicz-Adaption Die Kreuzritter von 1960. Seit 1990 gibt es eine neue Statistik. Und da steht an erster Stelle die Sienkiewicz-Adaption Mit Feuer und Schwert von 1999. Gefolgt von Wajdas Pan Tadeusz aus dem gleichen Jahr und einem weiteren Sienkiewicz-Film Durch Wüste und Dschungel. Auf Platz 5 hat sich der erst in diesem März uraufgeführte Film von Filip Bajon Vorfrühling nach Stefan Z?eromski geschoben, eine gleichfalls sehr aufwändige für nur fünf (!) Millionen Dollar produzierte Arbeit. Vorfrühling beschreibt den Weg eines jungen Polen, der die Oktoberrevolution in Baku erlebt und dann über Moskau und Warschau in die polnische Provinz kommt, wo ein dekadenter Landadel die zwanziger Jahre feiert. Wo sind für ihn "die gläsernen Häuser", die Utopie eines erfüllten Lebens in einem "neuen Polen"? Den Film sahen bisher 1,7 Millionen Zuschauer. Mag sein, dass nicht wenige Schulklassen ins Kino geführt werden, dass es sich hier um sogenannte nationale Familienfilme handelt, die die Generationen vereinen. Trotzdem ist die Resonanz außerordentlich beeindruckend. In der seit 1990 geführten Statistik tauchen übrigens nur zwei polnische Filme auf, die auch hierzulande bekannt sind: auf Platz 28 Krzysztof Kies´lowskis Drei Farben: blau und auf dem letzten, dem 30. Platz Drei Farben: weiß.Dass die aufwändigen Literaturverfilmungen viel mehr als gewaltige Kraftanstrengungen bedeuten, dass sie für das Land wichtige Diskussionsbeiträge bei der Suche und Fixierung der nationalen Identität sind, wird einem auch bei einem formal eher konventionellen Beitrag wie Pawel Komorowskis Sisyphusarbeit nach Z?eromskis frühem Roman schnell bewusst, wo es um die Unterdrückung der polnischen Sprache und Kultur durch zaristische Beamten in einem Jungengymnasium geht. Immer war in Polen die Kunst und Kultur ein Rettungsanker gegen Fremdherrschaft. Daran versuchen diese Filme noch einmal zu erinnern. Gerade jetzt, wo sich die jüngeren Generationen in die Europäische Gemeinschaft aufmachen, könnte das leicht vergessen werden ...Literaturverfilmungen am laufenden Band - bleiben da überhaupt noch Mittel für anderes, für Gegenwartsfilme zum Beispiel? Es bleibt natürlich nicht viel, aber das Wenige versteht man klug zu nutzen. Die moderne, handliche Technik macht es möglich, dass unabhängige Filme mit einem Minimum an Aufwand entstehen können. Pompöser Aufwand auf der einen Seite, Kargheit und Kreativität auf der anderen. Kein Wunder, dass etablierte Regisseure, die wegen fehlender Mittel ihre Projekte nicht realisieren können, vor einer Amateurisierung des polnischen Kinos warnen. Dass natürlich aber gerade hier, bei den "Amateuren" neue Impulse zu entdecken sind, versteht sich. Da beschreibt beispielsweise Grzegorz Lipiec in Solch ein Leben hat Sinn mit der Videokamera den tristen Alltag Jugendlicher in der polnischen Provinz, hier von Zielona Góra. Sie reden und reden und trinken Bier. Die Barriere zwischen denen vor und denen hinter der Kamera scheint nicht zu existieren. Die Banalität einer Freizeit ohne Sinn und Verstand - allein das Machen eines Films ist ein Akt der Selbstbefreiung. Oder aber auch Doppelporträt von Mariusz Front. Zwei "Helden" nur: ein junger Regisseur, arbeitslos, eine junge Schauspielerin, ebenfalls arbeitslos. Um einigermaßen zu überleben, jobben sie im Supermarkt. Die Demütigungen bei der Jobsuche, der harte Alltag im Supermarkt, die Härte und der Lärm in der Großstadt, die wenigen Stunden Zusammensein in der engen Wohnung, dann die Fahrt zu den Eltern in die Abgeschiedenheit der Provinz. Das ist genau beobachtet, spannend erzählt: hochmodernes, kluges europäisches Autorenkino. Aus dem Material von 80 Stunden hat der Regisseur leider nur 110 Minuten genutzt. Wann gibt es das heute noch im Kino: der Film erscheint dem Zuschauer eigentlich viel zu kurz. Auf dem Polnischen Spielfilmfestival, das im September in Gdynia stattfand, erhielt er einen Hauptpreis.Den Grand Prix bekam - ebenfalls völlig zu Recht - ein neuer Film von Robert Glinski Hi, Tereska, das Porträt eines 15jährigen Mädchens, die fast stumm, mit einem Minimum an zwischenmenschlichen Kontakten dahin lebt. Sie arbeitet als Näherin am Fließband, flieht die Verständnislosigkeit ihrer kleinbürgerlichen Eltern, sucht die Zuneigung einer Freundin und eines alten Krüppels, der als Pförtner arbeitet. Eine Geschichte, die fast zwangsläufig auf eine Katastrophe hin erzählt wird. Das Bild dieses vereinsamten Menschen, das an Robert Bressons Mouchette erinnert, lässt einen auch in der modernen Bilderflut nicht so schnell wieder los. Auch das ist ein Film, der natürlich in alle Kinos der Welt gehört, jetzt aber nur auf verschiedenen Festivals in aller Welt gezeigt wird. Wenn wir Glück haben, ist er vielleicht irgendwann einmal tief in der Nacht im Programm eines deutschen Fernsehsenders zu sehen.Und noch einmal: Die wirtschaftliche Situation des polnischen Kinos ist katastrophal. Manche sprechen von tragisch. Immer weniger Filme werden gedreht, viele Projekte bleiben liegen. Doch ein Film zumindest entsteht zur Zeit, ein sehr aufwändiger: Boguslaw Linda, der Hauptdarsteller aus Pan Tadeusz und Quo vadis dreht als Regisseur ein Remake von Fords Sienkiewicz-Verfilmung der Kreuzritter. Man kann sicher sein, dass im nächsten Jahr wieder die polnischen Schulklassen ins Kino geführt werden und auf Platz 1 der Statistik ein Wechsel stattfinden wird. Eigentlich Wahnsinn, aber dieser schöne Wahnsinn hat durchaus Methode.
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