Eigentlich aß er ja Nierchen zum Frühstück, der werte Herr Leopold Bloom. Doch zur Feier des Tages der 100-jährigen Wiederkehr des denkwürdigen 16. Juni nahm man es nicht so genau. Zum öffentlichen Frühstück in der North Great George´s Street, wo sich auch das James-Joyce-Center befindet, gab es heiße Sandwiches mit einem Gemisch aus Fisch, Blutwurst, Sülzwurst, Schinken und weiteren Würstchenzutaten. Unverdaubare irische Kost. Die Straße war abgesperrt, und bei den biedermeierlich-historischen Kostümierungen aus dem Dublin der vorletzten Jahrhundertwende kam man sich wie im Zeittunnel vor. Sie alle kamen, um ihren Roman zu feiern: Ulysses. Nicht dessen Erscheinen gab den Anlass, sondern die fiktionale Handlung jenes ink
jenes inkriminierten Tages, den James Joyce in 18 Kapiteln festhielt. Sein Dublin. Das er in freiwilligem Exil verließ, nie wiedersah und dennoch unsterblich machte.Der Roman war bei seinem Erscheinen eine Sensation, und er ist eine bleibende Herausforderung. Die zu Grunde liegende Idee, die Irrfahrten des Odysseus zum assoziativen Kompass zu nehmen für die Wege und Verirrungen eines modernen Großstadtmenschen, war an sich schon kühn. Aber in Homers Epos sind die Protagonisten echte Helden, ungebrochen tragische Figuren, wohingegen der Annoncen-Acquisiteur Leopold Bloom, dessen Frau Molly, der junge Intellektuelle Stephan Dedalus und der Rest des Dubliner Repertoires des Ulysses von den Niederungen des Alltagslebens geplagte Wesen sind. James Joyce beschreibt auf fein gesponnene Weise deren körperliche und seelische Befindlichkeiten, absolut tabulos, und die trivialsten Begebenheiten derart damit verbindend, dass die Verwirrung immens war. "Ekelerregend", befand D. H. Lawrence, der sublimierten Sex vorzog. "Ein Meisterwerk", urteilte noch vor der Publikation Ezra Pound.In Paris erschien das Buch 1922, nachdem Joyce zehn Jahre in Triest, Zürich und Paris daran geschrieben hatte. Wie selbstverständlich wurde Ulysses im puritanischen Nordamerika sogleich verboten; Prozesse folgten, Zoll-Beschlagnahmung, die Vernichtung von 2.000 Exemplaren durch die US-Post. Die erste fremdsprachige Übersetzung gab es 1927 ins Deutsche, zwar etwas verschämt in einem Privatdruck des Rhein-Verlages in 1.000 Exemplaren auf Bütten und in weiteren 100 - damals unverkäuflichen - Sonderexemplaren auf Dünndruckpapier, doch wohl insgesamt durchaus passend zu den libertinären zwanziger Jahren. Schräg gegenüber des Davy Byrne´s Pub auf der Duke Street, wo Mr. Bloom (oder war es nicht doch Mr. Joyce?) seinerzeit ein Käsesandwich aß und einen Burgunder trank, kann man in einem Rare-Book-Antiquariat die Nr. 1 der Dünndruckausgabe erstehen, von des Meisters Hand signiert. Verhandlungsbasis: 12.000 Euro. Gleich um die Ecke ist die Nationalbibliothek, und natürlich hat man zum runden Bloomsday eine hochkarätige Ausstellung organisiert. In abgedunkelten Räumen soll an Hand von alten Originalfotografien, allerseltensten Buchausgaben und mit nachgebauten Einrichtungen von des Dichters Schreibtisch und Bettstatt dessen Arbeits- und Lebensroute nachvollziehbar werden. Den eigentlichen Höhepunkt bilden allerdings die zum ersten Mal öffentlich gezeigten Skizzenbücher und Originalmanuskripte zum Ulysses. Sie sind mit Unterstützung des irischen Staates aus dem Nachlass von Paul Léon erworben worden. Léon, ein jüdischer Intellektueller und selbst Schriftsteller, war der Privatsekretär von Joyce in den dreißiger Jahren in Paris; er widmete sich selbstlos und zumeist ohne Bezahlung dessen Werk, insbesondere der Vollendung von Finnegans Wake. Als die Nazis kamen, wurde er in ein Konzentrationslager verschleppt, wo er starb. Das Stück Weltliteratur wurde gerettet, doch die Tragik des 20. Jahrhunderts klebt für immer an diesen Papieren.Zurück zur Gegenwart. Überall auf Dublins Straßen sieht man am 16. Juni 2004 anachronistisch herausgeputzte Menschen mit Strohhüten oder Blumen im Haar. Manche wirken wie spinnerte Späthippies. Die Männer tragen helle Sommeranzüge und die Damen aufgeplusterte Kostüme. Die Kleiderordnung, so sagt mir ein Mediziner aus dem Trinity-College, heute selbst in bekennender Verkleidung, steht mehr für Joyce und Nora Barnacle, dessen spätere Frau, als für den erfundenen Leopold-Bloom-Clan, aber wer macht da schon Unterschiede? Der Tag ist ausnehmend schön. "Kricket-Wetter", schreibt Joyce über seinen 16. 6. 1904. Ungewöhnlich heiß ist es auch jetzt; 28 Grad bei frischer Meeresbrise. Man kann an diesem Tag, lesebeflissen bis lektürewütig, an vielen Stellen, in Pubs und Parks, was erleben mit dem 1.000-Seiten-Roman, man kann auf Leopold Blooms Spuren wandeln, wie es all die Jahre geschieht, doch das Schrägste sind die von Schauspielern und Amateur-Liebhabern wie herbeigezauberten Gesangseinlagen auf improvisierter Bühne. Andächtig trällert man jene Lieder, die der hochmusikalische Joyce bereits sang.Es kann schon sein, dass man sich einmal im Jahr gemeinschaftlich "rejoycen" muss, um die schwierige Lektüre von neuem genießen zu können. Ich verlasse das Zentrum mit seinem aufgekratzt-bunten Volksfest-Charakter und suche einen abseitigen Ort auf: den Glasniwen-Friedhof. Joyce erzählt im Roman über viele Seiten hinweg vom Begräbnis des Paddy Dignam und wie die Figuren des Romans, allen voran Leopold Bloom und sein Begleiter Stephan Dedalus, die eigentliche Zeremonie für sich vereinnahmen, wie sie witzeln und lästern, Geschäfte anbahnen und über Weiber herziehen. Und siehe da, hier bin ich allein, kein Joycianer in Sicht. Ich schlendere, nicht anders als die dubiose Trauergesellschaft seinerzeit, vorbei an "trüb trauernden Engeln, Kreuzen, zerbrochenen Säulen, Familiengrüften, steinernen Hoffnungen, die beteten mit aufwärts gerichteten Händen". Bestimmt hat sich seit 100 Jahren nichts verändert in dieser Stille. Zwei Amerikaner, die ihren Autor offensichtlich gut kennen, steuern zielbewusst und mit Fotoapparaten bewaffnet auf den großen Hain der geheimnisumwitterten Grabstätte des irischen Nationalhelden Parnell zu, die Joyce auch beschrieb. Die Bloomsday-Party hat mich wieder. Der Tag endet für mich da, wo der Roman um acht Uhr morgens beginnt. Das ist in Sandycove, einige Meilen außerhalb von Dublin. Mit den üblichen Strohhut-Verdächtigen fährt man am Meer entlang - bis zum Martello-Turm, der jetzt James Joyce Tower heißt und der für den Dichter ein Museum beherbergt. Die Handlung im Roman hebt an mit einem bissigen Dialog der beiden jungen Spunde: des "stattlichen, feisten Buck Mulligan" und des feinsinnigen, doch - wie Mulligan sagt - "feigen Jesuiten" Stephan Dedalus, seines Zeichens Lehrer und freigeistiger Schriftsteller und steter Grübler am Weltenrätsel. Zweifellos verbirgt sich James Joyce selbst hinter dieser, seiner Dedalus-Telemachos-Figur, und als Schöpfer derselbigen begründetet er auch den Ruhm des Turmes, der einst gegen drohende napoleonische Invasion erbaut wurde. Doch das ist lange her; alles ist definitiv friedlich an diesem 100-jährigen Jubiläum. Ein paar Verrückte baden in der kalten irischen See, Kinder lärmen vom funkelnden Grün des schlammigen Strandes her und lassen wenig Pathos zu. Ganz oben, auf die Plattform des Turmes, haben sich verzückte Joyce-Jünger zurückgezogen, in ihr Buch vergraben. Jeder fröne seinem Kult. Es ist ein ungewöhnlicher Junitag, so wie ihn sich Joyce exemplarisch vorstellt haben mochte. Nur die Bloomsday-Strohhut-Industrie hat mehr Konjunktur denn je. Das gab es damals, im Jahre 1904, nicht, schon weil die Iren arm wie die Kirchenmäuse waren. Auf die Außenwände des Towers hat sich jemand unübersehbar mit einem Graffiti verewigt: "Bloom is a cod" - ja, ich habe richtig gelesen. Es steht weder cock noch god noch cad da - weder Schwanz noch Gott noch übler Kerl, doch der assoziative Klang der drei Wörter schwingt natürlich hintergründig mit, sicher ganz im Sinne unseres Sprachgenies. Bloom, Leopold, ist also ein Dorsch ... Ob das wohl Molly gefallen hätte? Ein windiger Hund war er manchmal schon. Der Spruch lässt alles offen, vielleicht ist es einfach irischer Nonsens-Humor. Und Mr. James Joyce hätte darüber sicher wohlgefällig gelächelt.
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