Zeitgeschichte Etwa 100 DDR-Bürger besetzen die bundesdeutsche Vertretung in Ostberlin. Sie wollen ihre Ausreise erzwingen und finden Nachahmer in Budapest, Prag und Warschau
Noch im Sommer 1989 schien die DDR – verglichen mit Polen, Ungarn und selbst mit der Sowjetunion – politisch stabil. Prinzipiell auf ihren Positionen beharrend, zeigte die SED-Führung durchaus Flexibilität im Detail. Eine seit Januar 1989 gültige Reiseverordnung stellte etwa die Beantragung der „ständigen Ausreise von DDR-Bürgern“ ins westliche Ausland erstmals auf eine rechtliche Basis. Zuvor abgelehnte Anträge konnten nunmehr zur Überprüfung nochmals eingereicht werden. Im ersten Halbjahr 1989 wurden daraufhin an die zuständigen Behörden gut 125.000 solcher Anträge gestellt.
Alles schien geregelt, da warteten westliche Medien mit einer Meldung auf, die aufhorchen ließ. Mehr als 100 DDR-Bürger hät
r hätten sich Zutritt zur Ständigen Vertretung (StäV) der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin verschafft und drängten dort auf ihre Ausreise. Das Beispiel sollte rasant Schule machen. Tage später besetzten – mit dem gleichen Ansinnen – 150 DDR-Bürger die bundesdeutsche Botschaft in Budapest. Ähnliches ereignete sich in Prag und Warschau. Das DDR-Außenministerium reagierte am 7. August mit einer scharfen Erklärung: Die „lautstarke Kampagne um einige DDR-Bürger“, denen in diplomatischen Vertretungen der BRD „widerrechtlich Aufenthalt gewährt“ werde, stelle „eine grobe Einmischung in souveräne Angelegenheiten der DDR dar“.Das Motiv für die allseits überraschenden „Botschaftsbesetzungen“ ergab sich aus dem neuen Reisegesetz der DDR und den daraufhin im ersten Halbjahr 1989 gestellten Anträgen: Nur knapp ein Drittel davon wurde bis Anfang Juli positiv beantwortet. Vor allem aus dem Kreis derer, die für sich kaum eine Chance sahen, mit ihrem Reise- oder Ausreisebegehren durchzukommen, rekrutierten sich die „Botschaftsflüchtlinge“. Wie zunächst in Ostberlin, mussten bald auch die westdeutschen Auslandsvertretungen in Budapest und Prag wegen Überfüllung geschlossen werden. Parallel dazu gelang es einigen Hundert sich in Ungarn aufhaltenden DDR-Bürgern, das „Paneuropäische Picknick“ des CSU-Europaparlamentariers Otto von Habsburg zu nutzen, um über die Grenze nach Österreich und von dort in die Bundesrepublik zu gehen. Es kam zur größten Fluchtwelle seit der Zeit kurz vor dem Mauerbau im August 1961.Was sich abspielte, hätte eigentlich die DDR-Führung beunruhigen, wenn nicht alarmieren müssen. Doch Wirtschaftssekretär Günter Mittag, der ab Anfang August befristet den schwer erkrankten Erich Honecker vertrat, nahm nicht öffentlich Stellung. Im Partei- und Regierungsapparat war man bemüht, die Fluchtfälle kleinzureden und sich selbst zu beruhigen: Von den 759.000 DDR-Bürgern, die im ersten Halbjahr 1988 zeitweilig in den Westen reisen durften, seien lediglich 2.754 nicht zurückgekehrt, ganze 0,36 Prozent, hieß es.Lawinenartige MassenfluchtAuch die Bundesregierung zeigte sich erstaunt. Auf eigenen Wunsch reiste Kanzleramtsminister Rudolf Seiters am 18. August in die DDR-Hauptstadt, um im Außenministerium vorzusprechen. Man wolle „ein politisch wie menschlich schweres Problem lösen“. Auf Drängen von Seiters versprach die DDR den Flüchtlingen Straffreiheit, sollten sie die BRD-Botschaften verlassen. Auch wolle man die Genehmigungsquote bei Anträgen auf eine ständige Ausreise erhöhen. Seiters betonte, die Bundesregierung sei zu konstruktiven Beziehungen mit der DDR weiterhin bereit.Doch die Botschaftsbesetzer misstrauten mehrheitlich den Angeboten und blieben. Als der ungarische Außenminister Horn am 11. September die Westgrenze seines Landes endgültig öffnete, schwoll die Massenflucht lawinenartig an: Binnen drei Tagen wanderten über 15.000 DDR-Bürger über Österreich in die Bundesrepublik aus – gegen Ende des Monats war die Zahl auf etwa 30.000 gestiegen.Nachdem die Politik des Beschwichtigens oder des Wegschickens politisch unbequemer „Ausreiser“ offenkundig gescheitert war, zeigte sich das Politbüro hilflos. Günter Mittag verdrängte das „Reiseproblem“ und bereitete stattdessen die Leipziger Herbstmesse vor. Vielleicht glaubte Mittag, dessen Sicht bis dahin allein auf die Ökonomie gerichtet war, tatsächlich daran, durch bessere Planerfüllung dem grollenden Unbehagen in der DDR begegnen zu können.Jeder halbwegs ernsthafte Versuch seitens der SED-Führung, des sich zuspitzenden „Reiseproblems“ Herr zu werden, hätte diese zu der Erkenntnis führen müssen, dass es sich bei den „Ausreisern“ überwiegend um Menschen handelte, die – nach dem Mauerbau geboren und aufgewachsen – erst seit den 70er Jahren die DDR bewusst erfahren hatten. Was diesem Staat in den ersten beiden Jahrzehnten innerhalb der Bevölkerung durchaus Anerkennung verschaffte – das Eintreten für den Frieden („Nie wieder Krieg!“), der Wiederaufbau („Auferstanden aus Ruinen“), die durch das Bildungswesen sich bietenden sozialen Aufstiegschancen (Arbeiter- und Bauernfakultät), die Vision der DDR-Reformer unter Parteichef Walter Ulbricht während der 60er, dass es dem Land gelänge, „die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern“ –, hatten sie nicht miterlebt. Wer 1989 zwischen 20 und 25 war, der wuchs unter der Honecker-Losung der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ auf, die letztlich auf Konsumismus setzte. Der musste feststellen, dass die DDR in dieser Hinsicht mit dem anderen deutschen Staat immer weniger mithalten konnte. Vom (West-)Fernsehen entsprechend formatiert, wünschte man sich volle Schaufenster, Reisefreiheit, Devisen und den eigenen Wagen. Wer all das schnell haben wollte, musste in den Westen gehen. Natürlich vergaßen die „Ausreiser“ nicht, ihre Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie zu erwähnen, wenn sie von westdeutschen Journalisten in den schnell für sie hergerichteten bayrischen Zeltcamps befragt wurden.Krampfhafte DialogverweigerungDas SED-Politbüro hätte sich spätestens nach der manipulierten Kommunalwahl vom Mai 1989 Gedanken darüber machen müssen, wie man die nach Millionen zählenden Unzufriedenen zurückgewinnen konnte – und wie verloren gegangene Visionen durch neue, attraktivere Gesellschaftsentwürfe zu ersetzen waren. Doch man mied diese Herausforderung. Vermutlich geschah das in dem Bewusstsein, dass neben einer Neuauflage der durch Erich Honecker 1971 abgebrochenen Wirtschaftsreformen auch ein politischer Wandel unvermeidlich war, der die Herrschaft des Politbüros gefährden konnte.Das dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass die SED-Führung nahezu krampfhaft allen, die auf eine lebenswerte DDR hofften, den Dialog verweigerte. Unter anderem der Leitung der Evangelischen Kirchen, die am 2. September mit einem Brief an das Politbüro auf die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Fluchtthemas hinwiesen und zu einer öffentlichen Diskussion darüber aufforderten. Die Bischöfe dachten gewiss ebenso an die Bürgerbewegungen, die fast alle Anfang September entstanden und sich umgehend zu Wort meldeten – das „Neue Forum“, „Demokratie Jetzt“ sowie „Demokratischer Aufbruch“. Diese Oppositionsgruppen sahen im Drängen auf Ausreise allerdings keine Unterstützung, sondern eher eine Beeinträchtigung ihrer Anstrengungen für einen demokratischen Umbruch in der DDR-Gesellschaft. Der Forderung „Wir wollen raus!“ setzten sie auf den einsetzenden Demonstrationen die Losung „Reisefreiheit statt Massenflucht“ entgegen.Rückblickend muss festgestellt werden, dass die Ausreisewelle vom Sommer 1989, die dadurch ausgelösten Störungen im deutsch-deutschen Verhältnis und das Unvermögen der SED-Führung, sich der Lage zu stellen, ihren Eindruck auf die DDR-Bevölkerung nicht verfehlten. Wer bleiben wollte, musste sich fragen, wo er denn bleiben würde. Da der interimistische Parteichef Günter Mittag wie auch der Ende September zurückkehrende Erich Honecker entweder unfähig oder nicht willens waren, „von oben“ zu reagieren, konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis in der DDR mit dem Frühherbst die „Revolution von unten“ begann.
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