Fest steht schon jetzt: Diese Europawahl ist eine historische. Ihr Ergebnis bringt wie unter einem Brennglas die Spaltung des Kontinents zum Ausdrucks. Im Jahr 2009 fand die letzte EU-Wahl statt, kurz vor Beginn der Euro-Krise. Seither verläuft ein immer tieferer Graben zwischen Verlierern und Gewinnern in Europa. Außerhalb Deutschlands ist in vielen Ländern der erwartete Rechtsruck eingetreten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Angela Merkels Austeritätspolitik hat weite Teile Europas ins soziale Elend und in die Massenarbeitslosigkeit gespart. Geradezu folgerichtig haben die Anti-Europäer und Rechtspopulisten deutlich zugelegt – in Griechenland und Frankreich, aber auch, aus Angst vor Wohlstandseinbußen, in Großbritannien, Österreich u
h und Dänemark. Insgesamt kommen die rechten EU-Gegner jedoch nicht auf das befürchtete Viertel der Abgeordneten. Sie werden den Kurs der EU deshalb nicht maßgeblich beeinflussen können.Wesentlich wichtiger dürfte dagegen der Wahlausgang in Deutschland sein. Und der ist wider Erwarten durchaus positiv: Denn erstmals nahmen mit fast 50 Prozent wieder deutlich mehr Menschen an einer Europawahl teil. Und mobilisiert haben weniger die Euro-Gegner als vielmehr die Europa-Befürworter – zu allererst Martin Schulz, Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten. Damit hat sich die von Jürgen Habermas gehegte Hoffnung bewahrheitet, wonach die Rechtspopulisten zu einem kollektiven Abwehrreflex ihrer Gegner beitragen könnten.Die sieben Prozent für die Alternative für Deutschland zeigen derweil, dass für die deutschen Euro-Gegner die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Noch deutlicher wurde die CSU für ihren populistischen Anti-Europa-Kurs abgestraft. Offensichtlich treibt demagogisches Wettern gegen angeblichen „Armutsimport“ durch Osteuropäer die eigenen Wähler noch lange nicht an die Wahlurnen.Und schließlich bekam auch die Kanzlerin die Quittung dafür, dass sie die Wahl nie wirklich zu einer europäischen gemacht hat, sondern statt Jean-Claude Juncker lieber das eigene Konterfei plakatieren ließ. Am Ende liebäugelte Merkel sogar selbst mit dem Europopulismus, als sie verkündete „Europa ist keine Sozialunion“. Die CDU hat damit viel von ihrem Status als Europapartei in der Tradition Konrad Adenauers und Helmut Kohls verspielt.Über die wahre Bedeutung der Wahl werden jedoch erst die kommenden Tage entscheiden. Jetzt muss sich zeigen, ob Angela Merkel tatsächlich Wort hält. „Jean-Claude Juncker ist unser Kandidat für den Präsidentenposten der Europäischen Kommission“, hatte sie im Wahlkampf versprochen. Wenn dem aber so ist, dann müssen die Konservativen dies auch für seinen Konkurrenten Schulz gelten lassen. Da weder Schulz noch Juncker über eine Mehrheit verfügen, müssen Koalitionen geschmiedet werden. Es wird also darauf ankommen, wer in den nächsten Tagen die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich vereinigen kann – wie in jedem normalen Parlament. Allein das wäre bereits eine entscheidende Aufwertung der bisher nur partiellen europäischen Demokratie.Käme dagegen keiner der beiden zum Zuge, sondern würde der Posten erneut unter den Staatschefs ausgekungelt, wäre das eine weitere Entwertung des EU-Parlaments – und der finale Sieg der Nationalisten. In den nächsten Tagen kommt es also zum Schwur auf die europäische Demokratie: Wir, die Bürger, hatten am vergangenen Sonntag die Wahl. Jetzt liegt es zunächst an den Regierungschefs, an der Spitze Angela Merkel, welchen Kandidaten sie dem EU-Parlament vorschlagen. Demokratische Vertiefung Europas oder Renationalisierung – so lautet die Entscheidung, vor der sie stehen. Merkel wird darauf die Antwort geben, doch zum Glück nicht sie allein. Am Ende muss das Parlament entscheiden, was ihm wichtiger ist: Die Meinung des europäischen Souverän oder eine Anweisung der nationalen Regierungschefs.Viel spricht dafür, dass Merkel und Co. versuchen werden, einen Kompromisskandidaten aus dem Hut zu zaubern. Denn im Kreis der Mächtigen sind sowohl Juncker als auch Schulz äußerst unbeliebt. Es kann also gut sein, dass sie mit Ersatzposten abgefunden werden. Doch das wäre, um mit den Worten von SPD-Chef Sigmar Gabriel zu sprechen, schlicht „Volksverdummung“. Ja, schlimmer noch: Würden die EU-Parlamentarier sich das bieten lassen, wäre es eine Form der Selbstdemütigung, ja Selbstdemontage. Dabei benötigt die europäische Demokratie nichts mehr als ein stärkeres Mandat der Legislative. Deshalb muss die Wahl des Kommissionspräsidenten zu einer Stunde des Parlaments werden – gegen die Übermacht der Regierungschefs.Um das Demokratiedefizit in Europa abzubauen, muss ihnen, muss vor allem Merkel ein guter Teil ihrer Macht abgetrotzt werden. Sonst wird es auf Dauer mit der EU nichts werden. Mut vor den eigenen nationalen Regierungen: Das ist jetzt die Aufgabe der EU-Parlamentarier. Bringen sie diesen Mut nicht auf, schaden sie der europäischen Demokratie, besorgen das Geschäft der Rechtspopulisten – und verspielen die einmalige Chance dieser Wahl.