Der Abend hatte sich über die Straße gesenkt, die Schwalben flogen tief von Hauswand zu Hauswand, die nachmittäglichen Kaffeetrinker gegenüber waren weiter gezogen. Von meinem Balkon aus kann man das alles prima beobachten, ich kann sogar sehen, wer in welchem Café sitzt, und dann entscheiden, ob es sich lohnt, runter zu gehen. In diesen Momenten mag ich meine Straße sehr. Es hat sich nicht soviel negativ verändert, wie geunkt wurde: Ok. Die Säufer-Eckkneipe war einem Restaurant mit mediterran inspirierter Küche gewichen, aber die fröhlichen Zecher sind einfach drei Häuser weiter gezogen.
Ein dunkler BMW mit offenen Scheiben cruist langsam über die Kreuzung, die Bässe dröhnen über die Straße und 50 Cent verhei
t verheißt gefährlich-lockend : I´ll take you to the candy shop. Das zieht mich dann auch hinunter auf die Straße.Vor dem Café treffe ich auf Daniel, einen alten Freund der schon seit über 20 Jahren in unserer Straße wohnt. Wir setzen uns draußen an ein Chromtischchen, fangen an zu erzählen und upzudaten, als er plötzlich sagt: "Weißt du was, ich zieh hier weg, schon bald, diesen Sommer noch."Das trifft mich schwer. "Das kannst du doch nicht machen", sage ich. Man muss dazu sagen, dass unser Bezirk oft verhöhnt wird, während er früher noch einen Glanz versprach, wurde er in den letzten Jahren schlecht geredet und geschrieben. Nur die Verlierer, die Gestrigen würden hier wohnen, wer jung und auf dem Weg nach oben ist, lebt woanders, hieß es und als Alteinwohner freute man sich da über jeden der hier blieb oder neu dazu kam. "Ich muss jetzt wegziehen", sagt Daniel, "sonst schaffe ich den Absprung nicht mehr!" "Absprung, Absprung, von was? Was soll den woanders besser sein?" "Ich muss einfach weg", sagt er, "ich bin zu lange hier gewesen, es wird mir alles zuviel, das ganze Elend." "Aber es ist doch inzwischen fast eine Idylle! Hier ist es doch so schön", beharre ich fassungslos, "es ist urban und trotzdem eine ruhige Straße, es ist ruhig, ohne langweilig zu sein, warum willst du denn weg?" Er schüttelt nur bedauernd den Kopf.Da baut sich genau uns gegenüber ein etwas verkommen wirkender, durch starke Gesichtsrötung auffallender, och junger Mann auf. Direkt an der traurigen Telekom-Säule, wo vorher ein glasüberdachtes Telefon und noch früher ein heimeliges gelbes Häuschen gestanden hatte."Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot," kräht er sofort laut und falsch und irgendwie provokativ darauf los, immer nur die erste Strophe, das lautmalerische "Er kann nicht mehr krähn, kokodi-kokoda", sowie die gängigen fremdsprachigen Fassungen - the cock is dead, le coq est mort - lässt er zum Glück weg. Dafür immer weiter: "Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot."Der Hahn ist tot? Der Papst war vor einigen Tagen gestorben, aber der Hahn? Hatte es irgendwas damit zu tun, der Hahn als christliches Symbol vielleicht? "Noch bevor der Hahn dreimal kräht, wirst du mich verleugnet haben", sagte Jesus zu Petrus, der wiederum eigentlich der erste Papst war, beziehungsweise waren alle späteren Päpste seine Nachfolger ... Ich dachte unauffällig darüber nach.Man darf nämlich auf leicht aggressive Leute nicht zu sehr reagieren, man muss sie freundlich ignorieren, ohne arrogant zu wirken. Wir haben in unserer Gegend damit einen professionellen Umgang, wir haben unsere Lieblingsschnorrer und gutherzigen Obdachlosen, für die wir zuständig sind, und wir haben gelernt, mit leicht verrückten Gestalten umzugehen: Mit der unheimlichen Frau, die immer Geld für ein Brot will, mit der wütenden Blumen- und Portraitverkäuferin, mit ihren wilden Sträußen zerrupfter Blumen, die sie wohl auch ganz wütend irgendwo aus der Erde gerissen hat. Da muss man ein freundlich-gleichgültiges Laissez-Faire kultivieren, eine Kleinigkeit geben und die Leute in Ruhe lassen, wenn man selbst in Ruhe gelassen werden will."Der Hahn ist tot", kräht der Querulant immer weiter, wir ignorierten ihn, Daniel wirkt betreten. Eine junge Frau kommt vorbei, mit betont lockeren, großen Schlenderschritten, praktisch im Flug nimmt sie die brennende, selbst gedrehte Zigarette aus dem Mund und reicht sie mit nachlässiger Großzügigkeit dem zornigen Sänger. Der hält im Gesang inne und schreit ihr nach: "Hau bloß ab, du blöde Fotze, sonst hau ich dir in die Fresse." Das war doch nun arg grob, und die Gäste an den Tischchen fahren zusammen und ducken sich innerlich. Die so beschimpfte Frau aber ist schon weiter und erwiderte nur professionell: "Schönen Dank auch!" Bei uns am Tisch sagt keiner etwas, Daniel ist zu erschrocken um seinen Triumph ausspielen zu können, und ich überlege nur, ob das jetzt ein Gottesbeweis war oder nur der berühmte Vorführeffekt.
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