Britische Soldaten vor El-Alamein 1942: Nur durch Montgomerys Sieg konnte das jüdische Palästina überleben
Foto: Everett Collection/Imago Images
An einer Geschichte des Zweiten Weltkriegs haben sich schon viele Autoren versucht. Meist steht dabei das Kampfgeschehen auf den Schlachtfeldern Europas im Mittelpunkt. Ergänzt werden diese Darstellungen durch die Schilderung weiterer Schauplätze – beispielsweise die im Fernen Osten. All diese Narrative haben unser historisches Gedächtnis geprägt. In seinem Buch Der andere Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935 – 1942, das für den Sachbuchpreis der diesjährigen Leipziger Buchmesse nominiert ist, nimmt der deutsch-israelische Historiker Dan Diner eine ungewohnte Perspektive ein. Für seine Betrachtung geht er an die Peripherien, er beleuchtet die Rolle des British Empire. Es geht ihm nicht um ein anderes Narrativ &
s Narrativ – durch die realitätsnahe Darstellung soll sich der Blick auf Geschichte von allein neu öffnen.der Freitag: Herr Diner, das jüdische Palästina war nur sehr peripher in die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs einbezogen. Es gab dort drei überschaubare Bombardements der Achsenmächte mit vergleichsweise wenigen Toten. Warum steht ausgerechnet diese vom Hauptkampfgeschehen abgeschiedene Region im Zentrum Ihrer Geschichtserzählung?Dan Diner: Ich habe mir schon lange die Frage gestellt, warum die Juden Palästinas, die doch relativ nahe am Kriegsgeschehen waren, relativ unbeschadet aus diesem hervorgegangen sind. In vielen Familien erzählt man sich, der Ort habe beigetragen, sie vor dem Unheil zu bewahren, sie gleichsam beschützt. Dann heißt es: „Meine Eltern haben sich früh genug nach Palästina retten können.“ Aber es war nicht der Ort, der sie vor dem Schlimmsten bewahrt hat, sondern die Konstellation des Kriegsgeschehens. Die Briten befürchteten einen Vormarsch der deutsch-italienischen Panzerarmee, die Ägypten einnehmen, dann über den Suezkanal in Richtung Palästina vorstoßen und sich mit den Richtung Kaukasus vorrückenden deutschen Heereskräften verbinden könnte. Dies konnte von der 8. Britischen Armee unter Bernard L. Montgomery bei El-Alamein gestoppt werden. Nur so konnte das jüdische Palästina überleben.Warum war die Verteidigung der Region für die Briten so wichtig?Ein Durchbruch von Rommels Panzerkorps hätte das britische Empire durchschnitten und es wäre faktisch in sich zusammengebrochen. Das britische Mandatsgebiet Palästina befand sich im äußersten Nordwesten der britischen Herrschaft in Asien, deren Verteidigungsring sich um den Indischen Ozean herumlegte. Dazu gehörten Ägypten mit dem Suezkanal, das Rote Meer, der Irak, Iran, der Persische Golf, Indien, Südafrika, Singapur und Australien. Diesen Bereich mussten die Briten verteidigen, um die Ölversorgung ihrer Flotte sicherzustellen, die in Alexandria und Malta ihre Heimathäfen im Mittelmeer hatte.Wo kam das Öl her?Abadan war das Zentrum der Ölförderung und -verarbeitung. Zudem gingen Pipelines vom Irak aus nach Haifa und Tripolis. Der im Zentrum des Empire liegende Indische Ozean fungierte als die große Drehscheibe für militärische Güter, vornehmlich amerikanischer Produktion. Montgomerys 8. Armee wurde über das Rote Meer versorgt. Über indische Häfen unterstützte man Tschiang Kai Scheks Truppen in ihrem Kampf gegen Japan. Die Rote Armee der Sowjetunion wurde über den Iran mit Flugzeugen, Panzern, Fahrzeugen, Rohmaterialien und Kerosin versorgt. Um zu verstehen, wie die Briten in Hinsicht auf Palästina agierten, muss man begreifen, was in Indien, im Fernen Osten, in Australien, in Südafrika, in der Sowjetunion, im Mittelmeer und im Nordatlantik geschah. Dieses Empire war ein Archipel, in dem alle mit allen wie mittels kommunizierender Röhren verbunden waren. Dieselbe Person kann an verschiedenen Orten auftauchen. Ein Militär, ein Diplomat, ein Bürokrat – war mal hier und mal war er dort. Die Erfahrungen, die man im Burenkrieg machte, wurden zur Bekämpfung irischer Aufständischer genutzt, um wiederum in der britischen Polizeitätigkeit in Palästina praktisch zu werden. Montgomery taucht dabei zum ersten Mal im anglo-irischen Krieg 1921 in Irland auf. 1938 treffen wir ihn in Palästina an. Dann eben in der Wüste vor El-Alamein. Zwischendurch befand er sich in Indien. Das war das Empire.Placeholder infobox-1Bei der Vielzahl von Schauplätzen lässt sich leicht der Überblick verlieren. Hätten nicht mehr Karten dazu beitragen können, das Verständnis des komplexen globalen Geschehens zu erleichtern?Das hieße, die Geografie zu empirisch zu nehmen. Es kommt nicht darauf an, dass man genau weiß, wo sich ein bestimmter Ort befindet. Wichtig ist, dass man weiß: Es ist weit weg oder ganz nah, bedrohlich, oder man befindet sich in Sicherheit. Oder, wie gelangt man unter den Bedingungen des Krieges von einem Ort zum anderen? Würde die Karte zu Rate gezogen werden, dann würde der Blick von Nord nach Süd über das Mittelmeer streifen. Aber der Krieg lässt uns nicht den kürzesten Weg nehmen. Er verändert den Aggregatzustand des Raumes, der sich in Schüben ausdehnt oder zusammenzieht, sich verhärtet oder verflüssigt. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob mehr Karten zum Verständnis dieses Vorgangs beigetragen hätten. Ich habe jedenfalls einen anderen Weg gewählt, um die Geschichte des Weltkriegs als eines globalen Ereignisses anschaulich zu machen. Es ging mir um die Einnahme einer Perspektive von größerer Realitätsnähe. Das gilt auch für die Methode, den Zugang. Ich inszeniere nämlich Argumente als Bilder und versuche diese historisch zu erzählen.Das klingt abstrakt. Wie muss man sich das konkret vorstellen?Hinter jedem Bild steckt ein Argument, das in der Geschichtsschreibung oder im öffentlichen Diskurs Bedeutung erlangt hat. Oder es werden implizite Vergleiche zwischen Gewalttaten vorgenommen, aber in argumentierender Erzählung. So die von den Nazis begangenen Verbrechen mit Kolonialgewalt im Globalen Süden bis hin zu dort eingetretenen großen Hungersnöten. Im Juli 1944 wurden Juden vom Dodekanes, dieser der Türkei vorgelagerten Insel, unter großem Aufwand über See und auf dem Schienenweg durch den ganzen Balkan nach Auschwitz befördert. Das ist die eine Form des Sterbens. Die andere die durch die Umstände des Krieges und Naturgewalten hervorgerufene Hungersnot in Bengalen, der an die vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dazu hat beigetragen, dass die Briten dort eine Strategie der verbrannten Erde betrieben, die eine japanische Invasion erschweren sollte. Schiffsraum für den Transport von Weizen aus Australien wurde verweigert, weil dieser für die Vorbereitung der alliierten Invasion auf den europäischen Kontinent bedurft wurde. Die Nazis hingegen verfolgten ein weltanschauliches Projekt. Es ging um rassenideologische „Umvolkung“, die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, also das, was unter „Ausmerze“ verstanden wurde. Dazu gehörte auch das Verhungern der sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Vernichtung der europäischen Juden stand dabei im Zentrum.Sie würden also sagen, dass es eine Vergleichbarkeit gibt im Hinblick auf die Anzahl der Opfer, ihrer Quantität, aber dass es einen Unterschied gibt in der Qualität des Todes beziehungsweise des Tötens?Es gibt einen Unterschied zwischen einem vom Militär angerichteten Massaker, einem durch Fahrlässigkeit in Kauf genommenen oder einem aktiv betriebenen Hungertod wie etwa dem im eingeschlossenen Leningrad. Ich versuche in meinem Buch diese Unterschiede aber nicht soziologisch zu erklären, sondern sie durch die bloße Erzählung plausibel zu machen.Im Globalen Süden wird an den Weltkrieg zum Teil deutlich anders erinnert. In Ägypten lässt sich eine bleibende Faszination für das Panzerkorps Rommels beobachten. Als ich 2019 auf der Buchmesse in Kairo war, sah ich dort verschiedene Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“ in unmittelbarer Nachbarschaft der Werke Franz Kafkas.Heute fallen in indischen Buchhandlungen Bücherstapel mit einer Biografie über Gandhi neben Hitlers Mein Kampf auf. Die Bevölkerungen, die im Britischen Imperium um ihre Unabhängigkeit rangen, identifizierten sich durchaus mit den Achsenmächten Deutschland und Japan. Die Iren wiederum stehen ihrem eigenen Selbstverständnis nach, aber auch in der Wahrnehmung anderer, im Bereich des Britischen Imperiums um ihre Selbstständigkeit ringender Völker, für ein Exempel eines antikolonialen Befreiungskampfs. Nach dem Suizid Hitlers suchte der irische Präsident Éamon de Valera die deutsche Botschaft in Dublin auf, um sich in die Kondolenzliste einzutragen. Im antikolonialen indischen Gedächtnis steht die Hungersnot in Bengalen im Zentrum des Gedächtnisses vom Zweiten Weltkrieg. Der Holocaust an den europäischen Juden ist ein eher fernes und vages Ereignis, das kaum ins Bewusstsein eingeht.Welche Folgen hat diese unterschiedliche Wahrnehmung für das historische Gedächtnis?In aller Vorsicht würde ich formulieren, dass postkoloniale Theorien in ebendiesen Ländern ihren Ursprung haben. Berührungen zur Anti-Hitler-Koalition erfolgten allenfalls mittels einer gewissen Identifikation mit der Sowjetunion und China, jedenfalls nicht über die Briten. Der in den 1950er, 1960er und ’70er Jahren virulente Antiimperialismus und Antikolonialismus mutierte nach dem Niedergang der Sowjetunion in einen Postkolonialismus, der einen anderen Weg einschlug, um nicht nur die Genesis des Westens zu kritisieren, sondern seine universelle Geltung als solche infrage zu stellen. Sein historischer Humus lässt sich auf ein Erfahrungsmilieu im Zweiten Weltkrieg zurückführen, das wenig sympathisch anmutet.Glauben Sie, dass man aus der Geschichte etwas für die Gegenwart lernen kann?Daran habe ich erhebliche Zweifel. Das Einzige, was mit einer gewissen Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass, je mehr ich mich der Gegenwart entziehe, desto klarer wird mir die Vergangenheit. Versuche, die Gegenwart zum Ausgang der Erkenntnis über die Vergangenheit zu nehmen, führen nicht weit. So gilt es sich dem Sog der Gegenwart zu entziehen. Nur dann tritt die Geschichte in aller Schärfe aus dem Dunst der Vergangenheit hervor. Das habe ich in dem Buch darzustellen versucht.Ist das eine Flucht? Die derzeitige Situation in Palästina erscheint so verfahren, das keine einigermaßen erfreuliche Lösung in Aussicht steht.Alle Entwicklung scheint in der Gegenwart versperrt. Umso mehr scheint in die Vergangenheit Bewegung zu kommen. Ich meine damit einen neuen Blick auf die Geschichte. Insofern mögen Sie nicht unrecht darin haben, dass der verstellten politischen Gegenwart wegen sich Rückzüge in die Vergangenheit anbieten. Aber der Blick in die Vergangenheit ist ebenso wenig anheimelnd. Freilich hat er den Vorteil, dass man dabei weiß, dass die Vergangenheit vergangen ist.Placeholder authorbio-1
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