Was haben uns Konservative, die mit dem Kapitalismus, Imperialismus und Kolonialismus verbündeten Fernsehsender, die neoliberalen Parteien nicht alles gesagt, besonders zur indigen-bäuerlichen Bewegung: Ihr habt kein Recht, Politik zu machen. Für euch ist Politik ein Verbrechen, eine Sünde. Eure Politik ist Schaufel und Hacke im Altiplano.“ Dass sich Geschichte selten so abspielt, wie das Parteistrategen suggerieren, daran hat Juan Evo Morales Ayma im Wahlkampf vor dem Präsidentenvotum am 12. Oktober mit derartigen Aussagen unablässig erinnert. Ob Freund oder Feind, darüber ist man sich im Elf-Millionen-Einwohner-Staat einig: Seit der streitbare Aymara – neben den Quechua die zweitgrößte indigene Volksgruppe – die politische Bühne betreten hat und beherrscht, ist Bolivien ein anderes Land geworden.
Ein Aufstand des Zorns, ausgehend von der Armenstadt El Alto, hatte Bolivien 2003 zwei Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie überwinden lassen. Präsident Sánchez de Lozada setzte sich ins US-Exil ab. Ende 2005 erhob dann ein fulminanter Wahlsieg Evo Morales, den Bauernsohn mit Grundschulabschluss, zum ersten indigenen Staatschef einer Republik, die sich einst für den Libertador Simón Bolívar als Namensgeber entschieden hatte. Ein 2006 gewählter Verfassungskonvent rief nach einem Referendum drei Jahre später den Plurinationalen Staat aus. Als Konsequenz dieser konstitutionellen Zäsur nehmen heute so viele Ureinwohner und Frauen auf Parlamentssitzen Platz wie in keinem anderen Land Südamerikas. Und nirgendwo sonst vom Río Grande bis Feuerland wurden Hunger, Armut, Müttersterblichkeit und Analphabetismus erfolgreicher bekämpft. In den neun Jahren mit dem Präsidenten Morales ließen über zwei Millionen das Elend hinter sich. Wenig überraschend genießt die Linksregierung so viel Vertrauen, dass die Serie ihrer Wahlsiege nicht abreißt – beachtlich für ein Land, in dem einst der Militärputsch als probates Mittel galt, sich Macht anzueignen.
Doch nicht nur im Kongress von La Paz, wo die Bewegung zum Sozialismus (MAS) zuletzt mit Zweidrittelmehrheit regierte und die Hausherren in Poncho und Krawatte die große Uhr über dem Stufenportal als Hommage an die „demokratisch-kulturelle Revolution“ links herum laufen lassen, hat sich der Wind gedreht. Man verbucht eine gestärkte Binnenökonomie mit Rekordinvestitionen des Staates, Wachstum und einen stabilen Haushalt. Es gibt keinen fremden Zugriff auf Boliviens Bodenschätze mehr, eine Renaissance lange verfemter Indígena-Kulturen und eine selbstbewusste Außenpolitik, die das Menschenrecht auf Wasser als Völkerrecht deutet und US-Botschafter, ohne mit der Wimper zu zucken, als Persona non grata nach Hause schickt. Mit Morales hat die Nation zu sich selbst finden können.
Die Vita des 54-Jährigen – mal mit Liebe, mal mit Abscheu nur „Evo“ gerufen – spiegelt die Geschichte einer durch Armut und die Hinterhof-Politik der USA erniedrigten Gesellschaft. Geboren 1959 im staubigen Nest Isallavi, das über 3.700 Meter hoch im Bergbau-Departamento Oruro liegt, wuchs der Junge in der kargen Welt des Altiplano auf. Erinnerungen seiner Schwester Esther lassen wissen, warum die Sozialprogramme des Bruders nach der Nationalisierung der Gas- und Ölvorkommen im Jahr 2006 gebraucht wurden. Die gewonnenen Milliarden umzuverteilen duldete keinen Aufschub. „Unser Dorf lebte ohne medizinische Versorgung“, erzählt Esther. „Meine Mutter behandelte unser Fieber allein mit Koka und Zucker. Manchmal heilte uns das. Wenn das Fieber so hoch war, dass es wehtat, bekamen wir Koka und Zucker unter die Achseln gedrückt, um unsere Füße wurde ein schwarzes Tuch gewickelt. Was so viel bedeutete wie: Du wirst durchkommen oder musst sterben.“ Sieben Kinder brachte die Mutter von Evo Morales im Ayllu Sullka (Kanton Orinoco) zur Welt – nur drei überlebten.
Kritik von Rechten wie radikalen Linken begleitet den Präsidenten seit jeher. Die einen geißeln eine interventionistische Wirtschaftspolitik und bürokratischen Staatssozialismus, der Investoren verschrecke. Anderen geht der von Morales proklamierte „Prozess des Wandels“ nicht weit genug. Es wird ein „rot lackierter Staatskapitalismus“ beklagt. Morales begehe Verrat an der Natur, weil die Abhängigkeit vom Weltmarkt mit schwankenden Gas- und Mineralienpreisen nicht überwunden sei und die Umwelt weiter zerstört werde. Andere beklagen, die Gewaltenteilung sei von Politisierung bedroht, da über die Richterschaft im von Korruption und Rassismus geprägten Justizwesen bis hoch zum Verfassungsgericht inzwischen direkt an der Wahlurne entschieden wird.
Morales sei ein Populist, wie er im Buche steht, befindet die oppositionelle Presse. Wenn er sich für einen steigenden Mindestlohn einsetze, die Gehälter im öffentlichen Dienst anheben oder die Altersgrenze für den Rentenbezug senken wolle, den Bau von Straßen und Hospitälern verspreche, sei das auch einem irrationalen Wahn zur Machterhaltung geschuldet. Fehlt nur, dass Boliviens beliebtestem Präsidenten aller Zeiten die Schuld für die Zerstrittenheit der traditionellen Eliten angehängt wird. Durften Indigene und Bauern vor der bürgerlichen Revolution von 1952 überhaupt nicht wählen, gehen heute so viele Menschen wie nie zuvor zu den Voten über den Präsidenten oder das Parlament. Letzte Umfragen sehen den bisherigen Hausherren im Palacio Quemado bei beeindruckenden 59 Prozent.
Kommentare 2
Ich wünsche ihm weiter Glück, möge er es besser machen, als Chavez.
Lieber Benjamin,
Dank für den Beitrag.
Dass Evo die Wiederwahl mit etwas 60% gewinnen wird, steht so fest wie eine Wiederwahl von Correa (Ecuador) oder vordem Chavez (Venezuela), die beide auch etwa 60% für ihre Wiederwahl mobilisieren konnten (das entspricht in etwa der Armutsrate in den drei Staaten). Aber aus anderem Grund. Alle drei Länder gehören dem ALBA-Staatenbund an (von Chavez ins Leben gerufen) und verfolgen offiziell die Politik des Sozialismus des 21. Jahrhundert (u.a. theoretisch untermauert auch wieder einmal von Deutschen unter beabsichtigter Anwendung der Marxschen Arbeitswertlehre), nicht zu verwechseln mit dem bürokratischen Sozialismus des Sowjetsystem. Dieser Sozialismus baut auf der "revolución ciudadana" (Bürgerrevolution), von einer Avantgarde von oben dem Volk aufgedrückt. In Venezuela und Ecuador ist das die Mestizen-Kleinbourgeoisie, während es in Bolivien von einer indigenen Elite ausgeht. Bolivien ist deshalb einzigartig, weil der ethnische Mischungprozess zwischen ehemaligen Spaniern und Indigenen weit weniger ausgeprägt war. Das lag schlicht und einfach an der Geographie, dem Altoplano, der Andenhochebene mit schwierigen geographischen Bedingungen und auf der Weisse im Wesentlichen keine rentable Hacienda-Landwirtschaft gestalten konnte wie in anderen Andenstaaten. Deshalb sind bis heute etwa 60% der Bevölkerung Indigene, die während der Kolonialzeit bis zum Amtsantritt von Evo unter fürchterlichen Ausbeutungsbedingungen primär im Minensektor oder in karger Subsistenzwirtschaft beschäftigt waren. Die Weissen hatten hauptsächlich in den Hanglagen zum Amazonasbecken hin gesiedelt und sich dort mit einheimischer Bevölkerung vermischt. D. h., während Peru und Ecuador etwa heute noch 30% Indigene aufweisen, sind es in Boliven 60%, und sie sind allesamt bitter arm; mehr als die Hälfte von ihnen unterhalb der absoluten Armutsgrenze von weniger als einem US$/Kopf/Tag. Evo hatte vor 9 Jahren zum ersten Mal die Indigenen einigen können und so die Präsidentenwahl gewonnen. Er wird sie wieder gewinnen, denn das kollektive Gedächtnis der bolivianischen Andenindianer ist über die beinahe 500 Jahre dauernde Unterdrückung ein Garant für seine Wiederwahl. Die nationale Mestizen-Oligarchie hat bis zu Evos erster Wahl stets mit Erfolg die Einheit der Indigenen durch Korrumptionsmethoden verhindern können. Jetzt spüren sie zum ersten Mal ihre Macht, Fremdherrschaft der Oligarchie, seit WKII auch kräftig durch den "US-CIA-gringo" aus dem Norden gestützt, durch Wahlen zu überwinden. Evo muss gegenüber seinen Landsleuten materiell und auch mit grösserer Partizipation liefern, auf Teufel komm raus, sonst wird er die Unterstützung der Indigenen wieder verlieren. Dieser Druck zwingt ihn, die mineralischen Ressourcen im nationalen Interesse auszubeuten und den Surplus für die indigene Bevölkerung umzuverteilen, vor allem um Erziehung und Gesundheit zu fördern.
Interessant ist noch Che's revolutionäres Wirken in Bolivien, mit dem er kläglich gescheitert ist und bei dem er von bolivianischem Militär unter kräftiger Mitwirkung des CIA ermordet wurde (1967). Che hielt nicht viel von Indigenen Boliviens als Guerilla-Kämpfer, wie vordem von den Afrikanern im gerade unabhängigen Congo (1965). Er meinte, dass einfach die revolutionäre Tat einer kleinen Elite (parallel zur RAF) ausreichend sei, um die lethargischen verarmten Massen zu gewinnen. Langfristige Aufklärungsarbeit an der Seite der Bauern war nicht sein Ding. Aber lassen wir hier die Polemik über einen arroganten argentinischen Revolutionär, der hauptsächlich sich selbst als Speerspitze im permanenten antiimperialistischen Kampf sah, allenfalls noch einige seiner kubanischen compañeros.
Evo sollte noch so lange regieren, bis eine genügend ausgebildete indigene Mittelschicht heranreift, die dann auch unter den Indigenen wieder für grösseren Pluralismus sorgen wird. In der augenblicklichen historischen Phase ist die Humanentwicklung der Indigenen Ziel Nummer 1. Und das dauert eine Generation. Wir brauchen uns um den Sozialismus des 21. Jh. in Boliven weniger zu sorgen als in Ecuador, Venezuela und Nicaragua, wo die staatliche Repression vonseiten einer neuen kleinbürgerlichen Bürokratenschicht Blüten treibt wie die Tulpen im Frühling. Die indigenen Völker der Anden wurden nur einmal im Laufe ihrer Geschichte auf brutale, intelligente Weise vereint, nämlich unter den Inkas. Hätten die Spanier zu dieser Zeit die Eroberung nicht erfolgreich begonnen, wäre wohl das Inkareich auch bald wieder zerfallen (persönliche Meinung), denn die verschiedenen Völker haben sich nie in ihrem Freiheitswillen brechen lassen.
Ebenso können wir uns in Europa am Freiheitswillen dieser Völker ein Beispiel nehmen, die trotz Armut weit selbstbewusster gegenüber dem imperialistischen "Uncle Sam", dem gringo aus dem Norden, auftreten als unsere unterwürfigen Politstars aus Berlin.
LG, CE