Es gehört zu den Automatismen des ideologischen Diskurses, fortwährend Geschmacksurteile abzugeben. Filme, Musik, Kleidung, Bücher, eine sprachliche Formulierung, die Form eines Autos, Geselligkeiten und Gespräche, Gerichte und Getränke, Gerüche, Personen, Kleidung werden nach ästhetischen Gesichtspunkten des Geschmacks kommentiert und beurteilt. Da gibt es plötzlich die abschätzige Bemerkung: sie ist eine hässliche Person; dieser Song ist super geil; jener Film war so toll; ein schöner Abend. Der Alltag verlangt in einer Vielzahl von Situationen Bewertungen.
In besonderem Maße gilt dies vielleicht im erzieherischen Umgang mit Kindern. Wie bewertet man Video- und Computerspiele? So häufig bestehen diese Spiele, wie sie den Kin
ie den Kindern und Jugendlichen größtes Vergnügen bereiten, aus Szenen, in denen sie mit Autos in größter Geschwindigkeit durch Städte fahren, Unfälle ohne Personenschaden verursachen, Menschen überfahren, andere mit schwerstem militärischen Gerät erschießen oder selbst beschossen werden. Mit welchem ästhetischen Recht soll man dem Kind dies verwehren und sich dann selbst Quentin Tarantinos Pulp Fiction zuwenden? Mit dem Argument, dass hier die Gewalt in der filmischen Narration entkoppelt und ironisch gebrochen wird? Aber ist dies ein Argument oder nur eine psychisch-ideologische Rationalisierung? Wie soll man einen Film wie Herr der Ringe bewerten? Dieser Film kann beschrieben werden als eine langweilige Abfolge von Kampfsituationen, die das mythische Verhängnis des Bestrebens nach der Weltherrschaft immerfort symbolisch veräußern und wiederholen. Die Werbung, publizistische Kommentare wie Bemerkungen von Freunden präsentieren ihn als ästhetisch interessant, weil er mit ganz neuen Computereffekten arbeitet. Langeweile, reizvolle Computeranimation, Erschrecken vor den zum visuellen Leben gebrachten phantasmatischen Erscheinungen der Unterwelten offeriert der Film. Soll man ihn einem Kind mit Werturteilen madig machen, um sich dann dem Ring des Nibelungen und den Grausamkeiten der Walküren zuwenden?Die Ästhetik lässt die Rat suchenden vor solchen Herausforderungen im Prinzip hilflos. Dies gilt in drei Hinsichten. Vielleicht gibt es irgendwo im akademischen Betrieb oder in den Feuilletons die Autorinnen, die so anspruchsvolle ästhetische Kriterien entwickelt haben, dass sie im Dickicht von Geschmacksurteilen eine Orientierung geben könnten. Aber diese Kriterien teilen sich in der öffentlichen Sphäre nicht mit oder gelten als wenig überzeugend: Adornos Argumente gegen den Jazz, Eislers Argumente gegen die Dummheit in der Musik - sind vielleicht richtig, aber machen ratlos oder lösen Affekte selbst bei denen aus, die ansonsten mit den Zielen der Autoren einig gehen. Die einzelnen sind offensichtlich ihrer autonomen Urteilskraft überantwortet.Auf paradoxe Weise wird alles zu einer Frage des Geschmacks. Alle dürfen in Anerkennung ihrer Autonomie für sich allein entscheiden - was bedeutet, dass sie nichts entscheiden, weil alles eben Geschmackssache ist. Der Geschmack wird aber von den Mächtigen und den vielen Kreativen - den virtuellen Söldnern und Killern, den teleliberalen Zuhältern - bestimmt, die in deren Auftrag die Kultur industriell entwerfen, planen und durchführen. Am Geschmacksurteil wird die Dimension des begründbaren Urteils zurückgenommen, das vielleicht Widerstand gegen die kulturindustriellen Zumutungen ermöglichen könnte.Dies hat zweitens auch mit der Entwicklung der Kunst zu tun. Sie hat sich derart radikalisiert, dass es kaum möglich wäre, ohne genauestes Expertenwissen Maßstäbe zu entwickeln. Jedem so dahin geäußerten Urteil droht die Gefahr, banausisch zu erscheinen. Andererseits zieht ja die Kunst selbst die Maßstäbe ein, dekonstruiert sie von innen. Darüber lässt sich auch noch eine komplizierte, selbstreflexive Ästhetik des "Endes der Kunst" entwickeln, die selbst fürs Geschäft taugt. Aber man kann dies auch unter Gesichtspunkten der Performativität, der Redepraxis der Kunst betrachten und zu dem Schluss kommen, dass das Redegenre der Kunst kein allgemeingültiger Kanal der weiteren gesellschaftlichen Willensbildung mehr ist.Von der Kunst, von der Kultur erwartet man keine politische Stellungnahme mehr oder vermutet, dass sie geschäftstüchtig zielgruppenorientiert ausfällt: Massenereignisse mit Welle und Wunderkerze von der Bundesliga über Konzerte für den Erhalt des Friedens, für Aids-Opfer oder gegen die Klimakatastrophe. Also wendet man sich ab, da es sich um langweilige Reproduktion der immer gleichen Argumentationsfiguren handelt. Auf einem Niveau unterhalb dieser Reflexions- und Erkenntnisschleifen ist man schließlich kriterienlos den täglichen Kulturpraktiken ausgeliefert. Was ließe sich zu ihnen noch sagen, nachdem das "Ende der Kunst" angeschlagen wurde und sich die elaboriertesten Formen von innen her bemühten, sich selbst zu dementieren?Die Folge dieser Komplexion ist nicht gewollt: die Kunst selbst wird unverbindlich. Über vieles will und kann man sich gar kein Urteil mehr erlauben. Das wirft einen zurück auf Artefakte, die vielleicht keine Kunstwerke sind, aber diskutiert werden als seien es welche: Filme, Songs, Krimis, Fernsehsendungen. Drittens aber versagen unsere ästhetischen Kriterien vor der Übermacht der sozialen Agenturen und Medien, die diese neuen "Kunstwerke" herstellen und verbreiten: es sind viele Millionen Menschen, die hier unter spezifischen Produktionsbedingungen arbeiten; viele Millionen und Milliarden Dollar und Euro, die hier verwertet werden, eine gewaltige technische und organisatorische Infrastruktur, die eingesetzt wird - und die Produkte werden auch gerade dafür gepriesen und erhalten deswegen Preise.An den Kindern und Jugendlichen lässt sich diese Macht studieren. Sie wissen um die Vorherrschaft des Fernsehens über die elterliche Autorität, weil sich im Fernsehen die Macht der Gesellschaft symbolisch verdichtet; sie wissen, dass die von Eminem oder Tokyo Hotel, Paris Hilton oder Britney Spears repräsentierten Maßstäbe wichtiger sind als die der Eltern. Welche Alternativen könnten diese ihnen bieten? Einen etwas weihevollen, aber auch langweiligen Ballettabend, einen anspruchsvollen Film, ein gutes Kinderbuch. Das lässt sich dazwischen schieben, aber es setzt die Schwerkraft vorherrschender kultureller Maßstäbe nicht außer Kraft, wie sie in Musik, Film, Fernsehen, Videospielen, Zeitschriften, Kleidung praktiziert werden.Betrachten wir die Regulation unserer kulturellen Praktiken, so erweisen sie sich als Mixtur, als fusionierte Kultur - analog zu den japanischen Restaurants, die fusion kitchen genannt werden und Gerichte anbieten, die verschiedene Zutaten und Geschmacksrichtungen verbinden. Kohärent sind die Kulturpraktiken nicht, sie könnten dies nur sein durch eine große Zahl von puritanischen Maßnahmen. Wenn man diese nicht verfolgen will, setzt sich der Alltag aus heterogenen Elementen zusammen: die Tagesschau nimmt unter die Nachrichten auch den Sport auf; wenn es von der Elends-, Totes- und Kriegsfront dieser Welt nichts zu berichten gibt, wird auch einmal über ein kulturelles Ereignis berichtet, wenn es die Schwelle zum Event überschreitet. Die Kultur ist dumm und halbgebildet. Das ist auch nicht neu - und was bedeutet diese Feststellung nach Jahrzehnten?In der ständigen Spannung zwischen alltäglichen Geschmacksurteilen und einer versagenden Ästhetik gehalten, hilft auch die Kultursoziologie des Geschmacks nicht wirklich weiter. Bourdieus anregende soziologische Kritik der ästhetischen Urteilskraft hat darüber belehrt, dass der Geschmack alles andere als eine natürliche oder rationale Fähigkeit ist. Die sozialen Klassen bilden und reproduzieren sich über die Relation, die sie zu anderen Klassen herzustellen vermögen. Es handelt sich um eine unterscheidende, distinktive Praxis, die kulturell und mit den Mitteln der Ästhetik vollzogen wird. Kunstwerke und Essen, Wohnungseinrichtungen und Lesegewohnheiten, Museumsbesuch und politische Meinungsbildung fügen sich zu einem kohärenten sozialen Muster kultureller Klassenpraxis. Zwar herrscht bei Bourdieu keine Klasse über die andere. Jede folgt nur ihrem eigenen Pfad. Doch die anonymen, statistisch wirkenden Naturgesetze der Gesellschaft haben gerade die Wirkung von Herrschaft. Das, was die Oberen kulturell tun, ist das, was die mittleren Klassen versuchen zu erreichen. Sie können durch Prätention und Kulturbeflissenheit den Anschein erwecken als ob. Sollten sie wirklich einmal in die Nähe des Erfolgs kommen, wird er ihnen durch eine Verschiebung der Kriterien entzogen.Die unteren Klassen sind von solchen Bestrebungen frei, bei ihnen macht nicht einmal der Versuch, sich in hochkulturelle Praktiken einzuüben, Sinn. Sie würden ihre Klassenposition auf diese Weise niemals verbessern können. Kultur dient, aus Bourdieus Sicht, allein als Mittel dem Zweck der Reproduktion der Klassenposition. Die Ästhetik steht nicht außerhalb dieses Spiels der Herstellung von Distanz zu anderen sozialen Klassen. Der Maßstab des autonomen Kunstwerks dient der Distinktion von denen, die es sich nicht zu verstehen erlauben. Ebenso wie die Hinwendung der Gebildeten zum Schrebergarten, zur Volksmusik und zum Freizeitpark ihrem paternalistischen Anspruch dienen mag, auf demokratische, nicht-elitäre Weise die Masse verständnisinnig zu führen.Eine solche Art der Analyse hilft und hilft nicht. Sie zerstört den schönen Schein der Kunst und der Natürlichkeit des Geschmacks. Auch die Kultur erweist sich als ganz hartes, materielles Faktum. Einmal als Spiel und Muße konzipiert, ist sie von den Gesetzen der Notwendigkeit, des Mangels an Freiheit durchzogen wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, unter denen sie produziert wird. Auch die Analyse des Geschmacks zieht die ästhetischen Kriterien ein. Denn alle, die sich geschmacklich, zu Kleidung, Essen, Roman oder Film äußern wollten, würden darauf hin gefragt werden müssen, auf welche Weise sie nun die Position ihrer Klasse reproduzieren wollen.Der Geschmack ist untrennbar mit Herrschaft und Emanzipation, also mit Politik verbunden. Denn der Geschmack besteht aus einem Bündel von Praktiken: Lebensformen des Lesens und Kleidens, Hörens und Schmeckens, Urteilens und Sich-Unterscheidens. Dies gibt einigen die Macht, das Recht, die Kompetenz, Maßstäbe zu errichten, Lebensweisen zu prägen, die Welt zu repräsentieren. Repräsentieren im doppelten Sinn: diese Welt darstellen und vertreten; damit aber auch: eine bestimmte Vorstellung von der Welt vermitteln, sie auf eine bestimmte Weise zusammenfassen und wahr nehmen, sie begreifen und ihr Bedeutung geben, das freie gemeinsame Leben durch kulturellen schönen Schein ersetzen.Demokratie macht dies auf die ihr eigene Weise. Im Namen der Gleichheit duldet sie elitäre Kulturmaßstäbe pluralistisch allenfalls als eine Meinungsäußerung und zeigt sich verständnisvoll gegenüber den Kulturpraktiken des gemeinen Volkes: Musikantenstadl, Disney-Parks und McDonalds. Die Kulturkritik von oben her wird sanktioniert. Das, was an ihr richtig wäre, nämlich eine anspruchsvolle intellektuelle kulturelle Praxis zu entwickeln, die in emanzipatorischer Hinsicht alle die Unterscheidungen von hoch und niedrig, ernst und unterhaltend, gebildet oder einfach überwinden könnte, wird ebenfalls verstellt. Funktioneller Analphabetismus und Tittytainment werden demokratisch schön geredet, um die Subalternen subaltern zu halten.Von dort her gewinnt Kulturkritik ihre Motive. Eine heute notwendige Kulturkritik ist etwas anderes als eine Ästhetik, die über die Erosion der Kultur und der Maßstäbe klagt. Vielmehr ist sie der Versuch, gegenüber einer Ästhetisierung der Herrschaft, die sich in das endlose Spiel von Repräsentationen zurückzieht, politische Maßstäbe zur Geltung zu bringen, die Umwertung der Werte umzuwerten, an den Repräsentation derart zu arbeiten, dass die Kultur als Herrschaft, die Wirklichkeit und die wirklichen Kämpfe und Widerstände sichtbar werden, kurz: Kritik der Kultur. Walter Benjamin hat dafür den Satz gefunden: "Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein."
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