Alltag Der Film "Schindlers Liste" machte Holocaust-Überlebende in den USA berühmt. Manche schweigen, andere sprechen vor Schulklassen über ihre Erinnerungen
Manchmal weht eine Brise altes Europa durch Pittsburgh. Während des koscheren Mittagessens im jüdischen Gemeindecenter zum Beispiel. Frau Abramowitsch hat ihren Stammtisch hier. Koscher zu kochen, ist aufwändig, und Sara Abramowitsch ist sehr alt und einsam. Ihr schwerfälliges Englisch vergisst sie ganz schnell, wenn sie den lauten und überfüllten Speisesaal betritt. Für eine Stunde taucht sie wieder in ihre alte Welt des Jiddischen ein, ihre Muttersprache und die der meisten anderen hier. Vereinzelt hört man auch Russisch, Rumänisch, Ungarisch oder Polnisch.
Jeden Mittag treffen sich im Speisesaal die letzten Holocaust-Überlebenden von Pittsburgh. Auch Sara Abramowitsch ist Ueberlebende. Das Essen ist für sie der Höhepunkt des Tag
kt des Tages.Zuhause in ihrem alten Arbeiterhäuschen schaut sie nur Fernsehen. Mitten im Wohnzimmer steht ein überdimensionaler Apparat, er ist ein Geschenk ihres einzigen Sohnes. Das Fernsehgerät sei wie ein Kompagnon, sagt sie und klagt über ihre Einsamkeit. Außer der Familie ihres Sohnes hat sie keine Verwandten in Pittsburgh. Nur eine Schwester in Israel. Weil aber Frau Abramowitsch ihr Leben lang Flugangst hatte, hat sie ihre Schwester, seit der Befreiung aus dem Konzentrationslager, niemals wieder gesehen. Nur übers Telefon halten die beiden Kontakt. Der Rest ihrer Familie wurde ermordet. Ein paar Tränen fallen aus ihren Augen. Leise beginnt Sara Abramowitsch zu schluchzen und bricht augenblicklich ihre Erzählung ab. Sie konzentriert sich wieder auf den Bildschirm. Gerade läuft die Jerry Springer Show. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben, vor über zehn Jahren, hat sie von ihren Erlebnissen während des Holocaust erzählt. Das war, als ein Team von Steven Spielberg sie interviewte. Frau Abramowitsch ist nämlich eine so genannte "Schindler-Jüdin". Zusammen mit ihrer Schwester arbeitete sie in dessen Fabrik. Sie hat ihn als einen guten Menschen in Erinnerung. Den Film Schindlers Liste hat sie sich trotz ihrer Mitwirkung aber nicht angeschaut. Warum sollte sie sich dem Schrecken noch einmal aussetzen? Stolz ist sie aber auf das gebundene schwarze Buch. Gut sichtbar steht es in ihrem Regal. Spielberg pesönlich hat es ihr zum Dank für die Mitwirkung am Film geschenkt.Nach dem Erfolg von Schindlers Liste hat das Holocaust-Center in Pittsburgh Frau Abramowitsch gebeten, vor Schulklassen über ihre Zeit bei Oskar Schindler zu berichten. Der Film steht immerhin in fast jeder Schule auf dem Lehrplan. Sie hat die Anfrage abgelehnt. Frau Abramowitsch ist kein Einzelfall. Nur wenige Überlebende in Pittsburgh möchten öffentlich sprechen. Das ist der Grund, weshalb Sam Gottesmann, Marga Randall und viele andere Aktive des Holocaust-Centers sich so verausgaben. Fast wöchentlich suchen sie Schulen im Umkreis der Stadt auf und sprechen über ihre Geschichte während des Holocaust. Für Sam Gottesmann sind die Vorträge zu so etwas wie einer Mission geworden. Er erzählt seine Geschichte stellvertretend für die anderen, die ihre nicht mehr erzählen können, weil sie zu alt und krank sind, oder weil sie von den Nazis ermordet worden sind, wie seine Mutter, Schwestern und Verwandten.Auch Gottesmann hat fast 40 Jahre über den Holocaust geschwiegen. Nur ab zu, wenn er unter seinesgleichen, unter Survivern war, hat er sich darüber ausgetauscht. Er war genug damit beschäftigt, um ein bisschen Normalität zu kämpfen, seine Alpträume zu besiegen, seinen Kindern ein amerikanisch-heiles Familienleben zu bieten. Und hart zu arbeiten. Wie die meisten Überlebenden in Pittsburgh schlug er sich mit Fabrikjobs durch.Ende der siebziger Jahre brach Sam sein Schweigen. Seine Pensionierung stand an, die Kinder wurden erwachsen. Und im Fernsehen überflügelte der melodramatische Mehrteiler Holocaust alle Zuschauerrekorde. Plötzlich wurde Sam Gottesmann mit Fragen konfrontiert. Im Pittsburgher Gemeindecenter bildete sich eine Gruppe von Kindern Überlebender, die mehr über die verschwiegene Vergangenheit ihrer Eltern wissen wollten. Einige Zeit später ist daraus ein Austausch entstanden. Gottesmann und andere Überlebende stellten sich den Fragen der Gruppe. Weil es nicht seine eigenen Kinder waren, fiel ihm das Erzählen damals nicht so schwer, sagt er. Aus der Gruppe wurden Ersatzkinder, bei denen er sich traute, offen über seine Traumatisierungen, Alpträume und Macken zu sprechen, Dinge, die seinem eigenen Sohn zu erzählen ihm zu schwer gefallen wäre.Während in anderen Städten Holocaust-Denkmäler geplant wurden, entschied man sich in Pittsburgh 1980 für eine "lebendige Form der Erinnerung". Das Holocaust-Center wurde gegründet, es war eine der ersten Institutionen, die versuchten, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten. Das Holocaust-Museum in Washington steckte noch in den Planungen, von einer "Holocaustindustrie" redete noch niemand. Heute besitzt jede amerikanische Mittelstadt mit jüdischer Einwohnerschaft solch ein Erinnerungscenter. Die Schüler der Beaver-Highsschool fiebern dem Auftritt von Sam Gottesmann entgegen. Sie haben Schindlers Liste gesehen und Eli Wiesel gelesen. Jetzt warten sie auf einen "echten" Überlebenden. Die Schule liegt fast eine Stunde von Pittsburgh entfernt in einer Gegend, die aussieht wie ein Industriefriedhof. Überall Stahlwerksruinen. An den Häusern flattern Stars-and-Stripes-Banner. Hier leben kaum jüdische Familien, der Anteil an schwarzen Kindern in der Schule sehr hoch. Die Klassenlehrerin glaubt, dass der Holocaustunterricht ihren Schülern die Bedeutung von Zivilcourage eindringlich vor Augen führen kann.Sam Gottesmann ist froh, dass sich so viele junge Menschen für seine Geschichte interessieren. An Hollywood, das einen großen Anteil an der Popularität des Themas "Holocaust" hat, kann er nichts Schlimmes finden. Zwar hätten Filme wie Schindlers Liste mit der Wirklichkeit, die er erlebt habe, nichts zu tun, aber seit es sie gebe, sei das Interesse gestiegen. Und seine Geschichte erzähle stellvertretend immer die Geschichte der Opfer. Außerdem glaubt Sam, dass der Holocaust eine Botschaft bereithält. Seine Message - so nennt er sie selbst - geht ganz einfach: "Greift ein, werdet keine Bystanders".Sams Vortrag findet in der Aula statt. In einem erschreckend riesigen Saal. Der kleine Mann mit Hochwasserhosen und schwerem Emigrantenakzent wirkt fast ein wenig bemitleidenswert vor den fast 300 Teenagern. Im Gegensatz zu manchen anderen Sprechern des Centers, die den Schulklassen eine professionelle Performance bieten, kämpft sich Gottesmann durch seine Geschichte. Man ahnt, dass es ihm trotz seiner langen Redeerfahrung noch immer schwer fällt darüber zu berichten, wie die Nazis in sein ungarisches Dorf einfielen. Wie sein eigener Klassenlehrer, ein Sudetendeutscher, mit einem Knaufstock auf den Zug der Deportierten einschlug. Und wie er seine Mutter und seine kleinen Schwestern zum letzten Mal sah.Gottesmann hetzt durch den Text, als wollte er ihm entfliehen. Seine Sätze sind kurz und oftmals grammatikalisch falsch. Die Aufmerksamkeit der Schüler gewinnt er trotzdem. Vielleicht, weil sie mit fühlen, dass Sam noch immer an dem Erlebten leidet, das schon 60 Jahre vergangen ist. Vielleicht, weil seine Geschichte den Thrill der Authenzität versprüht. Ein bisschen enttäuscht scheinen sie zu sein, als sie erfahren, dass Gottesmann keine Auschwitznummer eintätowiert wurde.Weil Gottesmann so schnell durch seine Geschichte gehetzt ist, bleibt viel Zeit für Diskussion. Leider sind intelligente oder einfühlsame Fragen Mangelware. Haben Sie Adolf Hitler persönlich getroffen, fragt ein Junge. Ein anderer möchte wissen, ob Sam in der Gaskammer war. Gottesmann bleibt erstaunlich gelassen. Eichmann, antwortet er, den habe er einmal in einem Arbeitslager gesehen.Er ist Fragen dieser Art gewohnt. Nur die jüdischen Kinder seien meist ein wenig informierter. Immerhin ein bis zwei Schüler, so seine Erfahrung, setzen sich nach seinen Vorträgen intensiver mit dem Thema auseinander. Das ist für ihn schon ein kleiner Erfolg. Er hat Wäschekörbe voll Briefen bekommen. Fast so, als wäre er ein Star, sagt er und lächelt schüchtern.Weil ihm ein paar Minuten bleiben, kommt er auf seine Botschaft zurück. Gottesmann ist plötzlich wie verwandelt. Wie George Bush klingt er jetzt. Er steigert sich in eine antiislamische Tirade und teilt die Welt in Gut und Böse. Seit dem 11. September glaubt Gottesmann, dass der Islamismus die neue Gefahr für die Juden darstellt. Das möchte er den Schulklassen mit auf den Weg geben.Ganz nebenbei verscheucht er mit seinen Agitationen die Atmosphäre der Erinnerung, die er sich vorher so leidvoll abgerungen hat. Als er abtritt, kämpft die Klassenlehrerin mit den Tränen.Später sitzt Sam Gottesmann erschöpft im Auto. Betreibt auch er, der Überlebende, unbewusst die Amerikanisierung des Holocaust, vor der viele Historiker warnen? Lädt er ihn mit amerikanischen Werten auf? Beteiligt er sich gar an seiner Trivialisierung? Gottesmann ist über Achtzig. Die Amerikaner haben ihm ein zweites, halbwegs normales Leben geschenkt. Vor allem ein Leben ohne Antisemitismus. Hier liegen die Beweggründe für Gottesmanns "Message". Seine "Botschaft", hat man den Eindruck, schützt Sam vor all dem Schmerz und dem Bewusstsein der Sinnlosigkeit, von der uns seine Geschichte erzählt.Kommende Woche hat er den nächsten Termin. Er spricht in einer jüdischen Schule in Pittsburgh. Die Vorträge strengen ihn an, das spürt man. Früher, erzählt er, hatte er schlimme Alpträume danach, besser: schlimmere als die, die ihn sowieso nächtlich heimsuchen. Heute, nach 24 Jahren und Hunderten Schülern hat er zumindest ein bisschen Routine. Trotzdem erzählt er noch immer an seiner "eigentlichen Geschichte" vorbei, sagt er. Er repetiert die Ereignisse, den Rest würde sowieso niemand verstehen. Außer den wenigen, die sich mittags in der jiddischen Welt des Speisesaals treffen. Frau Sara Abramowitsch zum Beispiel.
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