Jedes Mal ist er eine U-Bahn Station früher eingestiegen, um das letzte Stück mit ihr gemeinsam zu fahren. "So haben wir drei Minuten mehr zusammen", hat er ihr erklärt. Daran muss sie jetzt denken, auf dem überfüllten Bahnsteig, auf dem Weg zu seiner letzten Wohnung. In der Hand hält sie ein Bündel Blumen. Die sind für ihn. Sie will die Blumen vor seinem Fenster ablegen. Eine Kerze anzünden im Hinterhof, der bis auf ein paar Minuten am Mittag ganz ohne Sonne ist.
Christa S. ist groß, ihr Schritt ist schnell. Sie ist 72 Jahre alt. Ihr Gesicht wirkt älter. Um die Augen liegen tiefe Schatten, Ringe aus Traurigkeit. "Es hat sich nichts verändert", sagt sie, Straßen, Häuser, alles ist ihr vertraut. Hier gingen sie immer einka
mmer einkaufen. Sie zeigt auf einen kleinen Supermarkt. Kurz vor dem Ziel wird sie still. Es ist die Wohnung vorne links im Erdgeschoss. Christa S. hält ihr Gesicht nah an die Scheibe, schaut durch schmutziges Glas, durch verschlissene Gardinen. Sie weint. Dort drinnen erhängte sich ihr Sohn Carsten.Sie hätte ihn retten können, glaubt sie. Wäre sie nur da gewesen. Er könnte heute noch leben. Sie fühle sich schuldig deshalb, sagt sie. Niemand konnte ihn besser aufmuntern als sie. Aus Halberstadt kam sie oft zu Besuch. Zusammen haben sie dann als erstes die Wohnung geputzt, und das Treppenhaus, haben angekämpft gegen den Schmutz. Durch Berlin sind sie gelaufen, haben bei Kerzenlicht Abendbrot gegessen. Er wollte unbedingt Blumen vor dem Küchenfenster. "Carsten", sagte sie ihm, "hier im Hinterhof, hier wächst doch nichts." Aber er war nicht abzuhalten, wollte es unbedingt versuchen. Einmal hatte er sich über das Wochenende nicht gemeldet, war am Montag nicht zur Arbeit erschienen. Die Schwester, Eva, schöpfte als Erste Verdacht. Sie wusste um die Depressionen ihres Bruders, "Lebenskrisen" hatten sie es genannt. Er hatte einige Zeit bei ihr gewohnt, bei ihrem Mann und den zwei Töchtern. Anfangs hatte er sich verkrochen und war nur langsam wieder aufgetaucht. Er fand Arbeit als LKW Fahrer, fand eine neue Liebe, hatte sich sogar verlobt. Als Eva bei ihm klingelte, an diesem Montagmorgen vor sieben Jahren, antwortete er nicht. Eva rief sofort die Polizei.Die Beamten verschafften sich Eintritt, ließen Eva warten. Einer der Männer kam zurück und riet, sie solle sich den Anblick ersparen, der Bruder sehe schlimm aus. Evas Kopf wollte platzen. Sie irrte über den Hof, drehte sich in kleinen, atemlosen Kreisen. Die Erfahrung passte nicht hinein in die Wirklichkeit. Es war, als müsse sie wahnsinnig werden. Dann, so Eva, "legte sich im Kopf ein Schalter um", konnte sie nur noch an die Mutter denken, denn schon einmal hatte sie ihr die Nachricht vom Tod eines Sohnes gebracht. Ein zweites Mal würde sie es nicht fertig bringen, die Nachricht würde die Mutter töten, fürchtete Eva.15 Jahre vor Carsten hatte sich ihr Bruder Helmut erhängt. Es war an einem Sonntag geschehen, im August. Bis auf Helmut hatten alle im Wohnzimmer vor dem Fernseher gesessen, es war ein ganz normaler Abend gewesen. Bis dahin. Der Stuhl muss es gewesen sein, der plötzlich umstürzte, den er im Fallen wegstieß. Zu hören war ein dumpfes, endgültiges Geräusch, das jeden alarmieren musste. Eva hastete die Treppen nach oben. Dunkel war es auf dem Dachboden, sie musste erst nach dem Lichtschalter tasten. Im Augenblick als sie ins Helle trat, erkannte sie ihn. Sie konnte nichts tun, sagt sie, "nur wieder weg rennen und den Nachbarn holen." Der Nachbar kam und schnitt den Bruder mit einem Messer vom der Decke.Tumult brach aus. Die Mutter schrie und fiel ohnmächtig zu Boden. Wieder bei Bewusstsein, ließ sie Helmut in die Kapelle des Dorfes bringen. Der Bürgermeister hatte einen Schlüssel. So konnte die Mutter am offenen Sarg ihres jüngsten Sohnes wachen. Später zu Hause kam der Nachbar noch einmal mit einer Flasche Schnaps zurück. Zwischen den Tränen tat der Weinbrand gut. Der Schnaps wärmte und irgend jemand lachte in dieser Nacht kurz auf. Das habe sie gewundert, sagt Eva, "dass man entsetzt und traurig ist und irgendwo dazwischen Platz für so etwas ist."Er war der Schwierige, sagt Eva, "wirkte immer ein bisschen verloren." 19 Jahre war Helmut, als er starb, zu nichts gekommen. Etwas Kompliziertes, Ermüdendes sei um ihn gewesen. "Auch das", so Eva, "ist mit ihm verschwunden." Vielleicht sei sein Tod eine Art Lehrstunde gewesen, "ein starker Abgang", der Respekt verschaffte. An Liebeskummer, an ein Unglück wie die Mutter, will Eva nicht glauben. "Er wusste, was er tat." Niemand stehe zufällig da mit einem Strick um den Hals.Eva schrieb eine Diplomarbeit über das Thema Suizid, führte Interviews. So hat sie sich gegen das Nichtwissen gewehrt. Sie hat ihn trotzdem nicht gefunden, "den Grund". An vielen Stellen sieht die Vorgeschichte harmlos aus. Sie wurden nicht geschlagen, nicht missbraucht, vieles in ihrer Kindheit war heiter und schön. Was also reicht für den Selbstmord, was nicht? Die Toten nehmen die Antwort mit. Eva nannte in ihrer Diplomarbeit ihre Mutter "die Zähe". Die Mutter las es und erkannte sich nicht. Sie habe nur gedacht, so Christa S., "wie erstaunlich, dass noch einer Frau genau dasselbe passiert ist." Carsten war der Lieblingssohn, ja, sagt Christa S., das gebe sie zu. Er habe sie besser als die anderen verstanden. Sein Tod war entscheidend. Nach Helmut fand sie zurück ins Leben, nach Carsten war sie "fertig". Als man ihr die Nachricht seines Todes brachte, saß sie wie erstarrt auf dem Sofa. Die Beruhigungsspritze einer Ärztin lehnte sie ab, ihr Zustand geriet außer Kontrolle. Sie blieb unerreichbar. "Wie tot" fühlte sie sich, lange konnte sie nichts mehr hören. Nachts wachte sie von ihrem eigenen Weinen auf. Sie habe sich vorgestellt, hat sie der Tochter einmal erzählt, dass sie gerne sterben würde. In einem Waldsee würde sie untergehen.Beim Begräbnis durfte kein Fremder den Sarg berühren. "Das ist unser Mensch", hatte die Mutter bestimmt, "den fasst keiner an." Die Familie trug den Sarg. Etwas anderes kam nicht in Frage. Eine Predigt wollte sie auch nicht. Niemand sollte ein Wort über Carsten verlieren. Sie stellte sich mit ihren Kindern im Kreis, als könnten sie Carsten noch eine Weile festhalten.Christa S. hat es Behörden nie verziehen, wie kühl sie den Tod ihres Jungen behandelten. Im Falle von Nachfragen solle sie sich unter folgender Rufnummer melden. Das war alles. Die Polizei hatte keine Ahnung. Christa S. fand den Abschiedsbrief, die Polizei hatte ihn übersehen. Er lag oben im Schrank. Nicht ein böses Wort habe darin gestanden, nur Liebes und Gutes, "und wie Leid es ihm tut."Sie lebe von der Erinnerung an "das Gute", sagt die Mutter, für einen bestimmten Menschen aber empfinde sie Hass. Es ist die Verlobte des Sohnes, "diese Frau", die ihren Sohn im Stich gelassen habe. "Das gab ihm den Todesstoß." Auf einem Spaziergang im Winter hörte Christa S. die Stimme der Verlobten aus einem Hagebuttenbusch. Sie suchte einen Knüppel. Um sich verteidigen zu können gegen die Feindin und Zerstörerin ihres Glücks. Die Verlobte habe Schuld auf sich geladen, sagt die Mutter, die nicht wahr haben will, dass Carsten es war, der sich trennte. "Was wisst ihr schon", antwortet sie denen, die meinen, es müsse mit der Trauer langsam genug sein. Oder sie antwortet ihnen gar nicht. Die Trauer hat ihre eigenen Gesetze. An den Todestagen und Geburtstagen ihrer Söhne rückt sie sich einen Stuhl ans Grab, stellt ein Foto auf den Grabstein. Sie lebe, weil sie dieses Grab hat, sagt sie. Bald werde auch sie da unten liegen. Dann habe der Kampf ein Ende.Als junge Frau war sie strahlend schön. Sie hatte schwarzes, lockiges Haar, einen dunklen, ebenmäßigen Teint. Sie war unempfindlich gegen den eigenen Glanz, eitel, sagt sie, sei sie nie gewesen. Sie fühlte sich in der Pflicht von Anfang an, kümmerte sich um ihre Mutter, wie es der Vater Christa kurz vor seinem Tod aufgetragen hatte. Christa gehorchte. Sie pflegte die Mutter, bis sie, alt geworden, in ihren Armen stirbt.Christa liebt die Natur, sie schreibt Gedichte. Sie wählt einen Beruf mit Verantwortung, wird Pädagogin für Sonderschüler. Als sie Mitte 20 ist, beschließt sie zu heiraten, und eine Familie zu gründen. "Es ist Zeit", sagt sie sich, ihr Mann, ein Musiker und Maskenbildner vom Theater, ist sehr verliebt in sie. "An dir Rasseweib konnte ich nicht vorbei", gesteht er ihr. Die Ehe scheint glücklich. Christa wird schwanger. Sie bekommt Martin, ihren ersten Sohn, es folgen Volker und Carsten, dann kommen Helmut, der jüngste Sohn und zuletzt Eva, das einzige Mädchen. Die Mutter freut sich an ihren Kindern. Alle sind sie "schön und gesund." Die Ehe dagegen wird schwieriger. Der Mann ist unterwegs, betrügt sie mit anderen Frauen. Christa S. versucht, sich vor den Kindern nichts anmerken zu lassen.Nach zehn Jahren verlässt ihr Mann die Familie. Christa S. zieht mit ihren Kindern aufs Land, sie leitet ein Erziehungsheim. Ihre eigenen Kinder spielen im Wald Hauptmann und Feuerwehr. "Wir gehören zusammen", heißt es. Die Mutter achtet auf Frieden. Eva passt sich an aus Furcht, zur Außenseiterin zu werden. Vom Vater blieb ihr nichts als eine blasse Erinnerung. Und die frühe Überzeugung, dass alle Männer "Pfeifen" sind. Eva hat Glück. Da ist jemand anderer. Ein junger Mann aus dem Nachbarort. Er hat keine Angst vor der Mutter, vor den Brüdern, die sich jeden genau ansehen, der sich der Schwester nähern will. Er liebe Eva, sagt dieser junge Mann. Die Familie müsse damit leben. Die Mutter, sagt Eva, habe es sich vorbehalten, Einfluss zu nehmen, Freunde in passende und weniger passende zu unterteilen. Ihre Maßstäbe waren streng. "Dass man sich klein neben ihr fühlt", so die Tochter, "das hatte sie drauf." Eva lacht.Sie kann sich heute gegen die Stärke der Mutter wehren. Ihr Bruder Volker kann es nicht. Er weicht der Mutter aus, hat Schwierigkeiten, eine Beziehung einzugehen. Sie möchte ihn am liebsten schütteln, sagt Eva, "dass er ja kein alter, verbitterter, einsamer Mann wird!" Volker sollte Carstens Platz einnehmen. Auch Evas Nähe hat sich die Mutter gewünscht. Von Martin, dem ältesten der Söhne, war nie die Rede. Er kommt in der Geschichte nicht vor.
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