Wenn politische Projekte "Mozart" heißen (wie der jüngst von Arbeitsminister Riester im Zuge der Faulheitsdebatte vorgelegte Plan zur Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialämtern) und die Gewerkschaft, die dagegen protestiert, "Verdi", fällt es zunehmend schwer, das Thema Arbeitslosigkeit als ästhetisches Problem zu behandeln. Zu fließend scheinen die Grenzen zwischen der Ästhetisierung der Politik und einer politischen Ästhetik. Und da Politik mehr denn je als Effekt medialer Inszenierung auftritt, stellt sich die Frage nach der Differenz zwischen Ästhetik und Politik umso schärfer. Die bildende Kunst hat daher seit ein paar Jahren die in der Ideologie der deregulierten Märkte abhanden gekommene Frage nach der sozialen Verantwortung w
g wieder entdeckt: Politische Strategien der siebziger Jahre, wie das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, die Gestaltung des sozialen Raums, werden heute in ästhetischer Auseinandersetzung und Aneignung neu bestimmt. Moralische Fragestellungen also sind zum Unterscheidungskriterium zwischen Kunst und Politik geworden.In ihrem zweiten Spielfilm Rosetta haben die Dokumentarfilmer Jean-Pierre und Luc Dardenne auf noch entschiedenere Weise als in ihrem Erstling La Promesse die Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Leben moralisch gestellt. Sie realisieren sie aber nicht als Aussage, sondern in erster Linie als filmische Struktur, im Verhältnis von Kamera und Protagonistin.Eine junge Frau im weißen Kittel mit weißer Haube stürmt einen schmalen weißen Gang entlang. Die Kamera folgt ihr auf sehr kurze Distanz, nimmt ihren schwankenden Bewegungsrhythmus auf, folgt ihr treppauf, treppab, durch Türen, die sie zuschlägt, unbeirrbar nur an ihr und ihrer Bewegung interessiert, auch als diese in eine Fabrikhalle stürmt und das für den Zuschauer orientierende Geräusch ihrer Schritte vom Lärm der Maschinen übertönt wird. Sie weicht erst ein wenig von der Frau zurück, wenn diese auf ihren Chef trifft, der ihr barsch den Weg weist: "Kommen Sie in mein Büro!" Als die Frau stattdessen den Mann angreift und zugleich anfleht, kommt ihr die Kamera wieder so nahe, dass die Repliken des Mannes nur auf ihrem Gesicht sichtbar sind. Abrupt beginnt sie einen Kampf; wild drischt sie auf ihren Chef ein, der sie soeben entlassen hat. Die Szene endet mit einer Großaufnahme ihres wutschnaubenden Profils, sie hat den Kampf verloren, wenn auch nicht aus physischer Unterlegenheit; der Bildausschnitt isoliert sie. Jede Regung auf diesem Gesicht ist unmittelbar mit ihrem Handeln verknüpft, das unverständlich ist, weil es keinen (bildlichen) Zusammenhang hat. Wut und Aggression zeichnen sich ab, aber wo kommen sie her? Der "Kriegszustand", in dem diese Figur lebt und von dem die Regisseure in einem Interview sprechen, ist nicht nur der Krieg um Arbeit, es ist zuerst der, den die Kamera mit seiner Protagonistin führt. Wie die verkantende Handkamera in Lars von Triers Idioten adaptiert der Film eine neue Bildform - die der Webcams und Überwachungskameras, die pausenlos aufzeichnen, um das Authentische hinter den genormten Gesichtern der Individualität im Moment ihres Entgleisens festzuhalten. Indem hier aber das Gesicht Rosettas der insistierenden Kamera einen zusammenhängenden Ausdruck verweigert, entsteht im Gegensatz zur Bildform der Dokusoaps ein wirkliches Gesicht, dessen Geheimnis gerade in seiner nicht zu fassenden Präsenz liegt. Es ist ein Gesicht, dessen Züge vereinzelt sind, weil die Stärke der Affekte, die sich darauf spiegeln, keinen hinreichenden Grund zu haben scheinen. Denn das Innere der Figur erklärt sich umso weniger, je ausdauernder wir sie betrachten. So stellt sich für den Zuschauer der irritierende Effekt ein, dass gerade die andauernde bildliche Nähe ihn von der Figur distanziert. Die Darstellerin der Rosetta, Emilie Dequenne, wirkt vor der Kamera umso authentischer, je ungreifbarer die Figur ist, die sie spielt. Sie hat dafür, wie auch die Regisseure für ihre aktuelle ästhetische Kritik am Modus der neuen Bildform und deren politischen Konsequenzen, 1999 in Cannes die Goldene Palme gewonnen.Und noch einmal scheint der Film ansatzlos zu beginnen, wenn die Frau, Rosetta, in der nächsten Szene eine periphere, ganz in Grau gehaltene Stadtlandschaft durchquert: Häuserfluchten, Straßenkreuzungen, eine Bushaltestelle. Dann ist ihr Gesicht groß im Bus zu sehen; sie geht durch ein Holztor, schaut sich um, überquert eine Straße und verschwindet im Wald. An einem versteckten Ort tauscht sie die Straßenschuhe gegen Gummistiefel aus, schlüpft durch einen Zaun und erreicht einen Campingplatz: Die Montage schiebt die Nah-Aufnahmen von Rosetta an verschiedenen Orte so ineinander, dass sie wie eine nach außen gestülpte innere Landschaft erscheinen; es sind Orte, die ebenso unzugänglich sind wie die Figur selbst. Für den Zuschauer gibt es keine Orientierung, die unabhängig von dieser Verschränkung wäre. Und wenn dann im Verlauf des Films immer wieder die gleichen Gänge und Orte auftauchen, in denen Rosetta die immer gleichen Handlungen vollzieht, werden diese Wege, Orte und Handlungen mit Bedeutungen aufgeladen, die die Geschichte nie völlig preisgibt. Sie lassen sich nur aus der insistierenden Wiederholung heraus erschließen.Rosetta kreist unermüdlich um die Arbeitssuche. Um einen Job zu bekommen, verrät sie sogar ihren Freund Riquet - sie denunziert ihn beim Chef, nur um seine Arbeit als Bäcker in einer Waffelbude übernehmen zu können. Riquet kreist ganz buchstäblich um Rosetta, noch als sie ihn verraten hat: Immer wieder fährt er mit seinem Mofa um sie herum, kreist sie bedrohlich ein und beschützt sie aber auch. Die Bewegungen von Rosettas Mutter kreisen um den Alkohol, den sie für Sex bekommt. Sie alle leben in einer provisorischen Welt des Übergangs: Mutter und Tochter in einem Campingwagen, an der Schwelle zwischen fest und mobil, drinnen und draußen. Das Pendant dazu in der Stadt ist die Waffelbude, ein fahrbarer Wagen an der Bushaltestelle. Das Fließende, Unstete der Dinge ist in der Wiederholung eine zersetzende, auflösende Kraft, die alle Ebenen des Films durchwebt und die Figuren ergreift. Dazu gehören Rosettas immer wieder auftretendes Bauchweh oder das Motiv des Teiches, in dessen Schlamm einmal Rosetta, einmal Riquet, alleingelassen von den anderen, zu ertrinken drohen.Als Parabel also entwickelt der Film sein Sujet: Jede der Figuren, Rosetta, ihre Mutter, ihr Freund, ist von etwas besessen, für das es keinen hinlänglichen Ausdruck gibt. Der Zuschauer erlebt die beklemmende Wirkung reiner, roher und das heißt frei schwebender Affekte. Wo sich die Figuren berühren, kommt das elektrischen Entladungen gleich: Die sich permanent wiederholenden Prügeleien erscheinen als einzig erträgliche Form körperlicher Nähe. Rosetta skizziert ausgehend vom nie zu fassenden Gesicht seiner Protagonistin die soziale Situation der Unberührbaren in einer deregulierten Gesellschaft.
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