Alltag Bei der Agentur Tomorrow fühlen Jugendliche das große Versprechen einer Karriere beim Film. Obwohl es nur um ein Coaching für kleine Rollen geht.
Vorbereitung auf die Wut: Die Schauspielerin Kristiane Kupfer sitzt kerzengerade. Sie umklammert die Tischplatte, saugt die Luft tief ein und blickt angriffslustig in die Runde. Die Schüler rings um den Tisch ahmen ihre Haltung und ihren Ausdruck nach. "Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Man erkennt dich ja kaum wieder", schnauzt die wütende Lehrerin das Mädchen zu ihrer Rechten an. Die wendet sich rasch ihrer Nachbarin zu und brüllt den Satz weiter. So geht das einmal um den Tisch, eine Art Stille Post, nur eben laut und aggressiv.
Die blassblauen Augen der Trainerin huschen dem Satz fiebrig nach, von einem zum anderen. Zwischendurch nickt sie zustimmend oder lacht begeistert auf. Sie pappt die blonden Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben, w
t haben, wieder an den Kopf. Sie scheint kaum abwarten zu können, dass der Satz auf der anderen Seite der Runde zu ihr zurückkehrt. Na los, Leute. Wir sind hier nicht beim Gedichte-Wettbewerb. Das sagt sie den Neuen häufig, die sich anstrengen, Sätze betont auszuformulieren.Neun Mädchen und ein Junge haben sich zum Texttraining im Büro der Agentur versammelt. Die Agentur Tomorrow in Berlin Mitte vermittelt Kinder und Jugendliche an Werbe-, Film- und Fernsehproduktionen. Jeden Samstag findet ein Coaching für die jungen Darsteller statt. 58 Euro kostet es monatlich. Der Eintrag in die Kartei ist kostenlos. Nach Vermittlung eines Jobs bekommt die Agentur zwölf Prozent der Gage. Das Texttraining unter Leitung von Kristiane Kupfer ist Teil des Coachings. Die zehn Schüler am Tisch sind zwischen zwölf und 15 Jahren alt. Einige von ihnen haben bereits gedreht.Die 14-jährige Pauline Schwarz zum Beispiel. Sie spielte eine kleine Rolle in dem Film Deadline, der auf SAT1 lief, und in einem Werbespot für den Fernsehsender Premiere. Dunkle Augen, sinnliche Lippen, langes, glänzendes Haar - vielleicht ist Pauline sogar hübscher als die anderen Mädchen am Tisch. Vielleicht nicht. Sie besitzt eine natürliche Ausstrahlung. Sie klingt etwas unaufgeregter als die anderen. Sie erdet die Sätze, die da im Kreis toben.Pauline ist dem Agenten von Tomorrow auf der Jugendmesse YOU, der Messe für Outfit, Sport Lifestyle, aufgefallen. Er fragte, ob sie nicht Lust habe, mal bei Tomorrow vorbei zu schauen. Welches neugierige, wache Mädchen hätte nein gesagt? Ist nicht die Einladung, sich für das Filmbusiness bereit zu halten, das größte Kompliment für einen Teenager? Beginnen nicht genauso die Geschichten der Stars?Jetzt möchte Pauline Schauspielerin werden. Der Wunsch erwachte nicht erst bei den Dreharbeiten. "Das fing an, als ich das erste Coaching in der Agentur mitgemacht habe. Da kann man seine Energie so herrlich rauslassen. Ich wusste sofort: Das ist das Richtige für mich."Die Coachin Kristiane Kupfer verteilt in Windeseile die Blätter mit der Casting-Szene. Sie wirft Fragen in die Runde, die sie gleich selbst beantwortet. "Stell dir vor, du arbeitest in der Design-Agentur deines Vaters. Die Agentur läuft toll. Geht´s dir dann gut? Fühlst du dich da sicher? - Ja. Klar. Total. Und du wirst in dieser Agentur gemobbt" - ihr Finger sticht in Richtung der 15-jährigen Nele - "man klaut deine Entwürfe. Jemand anderes wird dafür gelobt. Du bist gut. Du weißt das. Aber du sitzt den ganzen Tag in einem dunklen Kabuff und nähst Kragen. Bist du dann nicht kurz davor, Gegenstände zu werfen? - Klar. Total." Nele fällt in das hastige Nicken der Lehrerin ein. "Stell dir vor, du wirst von einem jungen Kollegen so richtig voll geschleimt. Der erzählt dir das Blaue vom Himmel. Da fühlst du dich doch geschmeichelt. Da geht´s dir doch gut, oder? Geht´s dir dann nicht gut? - Klar."Pauline blickt aus ihren dunklen Augen von tief drinnen in die Welt. Ginge es ihr wirklich gut, wenn ihr ein Verehrer so billig käme wie der Typ aus der Vorabendserie, der die Szene für das Texttraining entnommen ist? Und, selbst wenn sie dem Tempo dieser Sportstunde folgen kann, ahnt sie doch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, was die Schmeichelei des "jungen Kollegen" aus Sicht der 46-jährigen Lehrerin bedeutet.Stichwort: Coldreading. "Eine Technik aus Amerika, die bei uns immer häufiger praktiziert wird", erklärt Kristiane Kupfer. "Die Darsteller kommen zum Casting, kriegen die Szene in die Hand gedrückt und müssen sofort los spielen. Auch darauf wollen wir die Mädchen und Jungen vorbereiten."Der zweite Teil des Texttrainings, das Spiel, findet im Keller statt. Dort kann man ungestört schreien. Die Szene spielt auf einer Party. Jan macht sich an Katja, die Tochter des Chefs, ran, um im Job endlich vorwärts zu kommen. Bei diesem Flirt wird er von seiner Freundin Bella erwischt. Die macht ihm eine gewaltige Szene. Am Ende fliegt ein Teller mit Kartoffelsalat durch den Garten.Die neun Mädchen hetzen abwechselnd als Katja und Bella durch die Szene. "Spielt mehr zum Publikum", weist die Sportlehrerin zwischendurch an. "Los. Die Nächste. Versuch, dich da reinzuknallen." Pauline ist eine atemlose Bella, stereotyp wie die anderen Mädchen, ihre Stimme etwas weniger schrill.Zwischendurch Mentaltraining zur Auflockerung. Hüpfen im Kreis. "Wir sind Schauspieler! Wir sind fit!" Sie reißen die Arme nach oben. Danach Zunge kreisen. Erst rechts, dann links herum. Kurz in den Bauch fühlen. Und Action: Jan schleimt Katja zu, Bella erwischt ihn dabei, brüllt Jan an, der motzt zurück. Der Kartoffelsalat fliegt.Im ersten Stock des Hinterhauses stehen die kleineren Kinder währenddessen für die Aufwärmübungen im Kreis, Sieben- bis Elfjährige, wie man sie in Berlin Mitte nicht auf der Straße sieht, weil sie vormittags in der Schule und nachmittags auf die Musik- und Kampfsportschulen, die Tanz-, Pantomime- und Yogastudios des Bezirkes verteilt sind und von den Eltern zwischen den Orten hin und her gefahren werden.Die "stille" Post kracht ringsherum. "Hau ab!" - "Ich hasse dich!" - Sag mal, siehst du mich lachen? SIEHST DU MICH LACHEN?" Ein kleines Mädchen beginnt zu weinen. Sie ist an diesem Tag das erste Mal da. Die Trainerin erlaubt ihr, weiter vom Rand aus zuzuschauen.Es falle ihm schwer, ein Talent vorauszusagen, wenn die Kinder vorsprechen, sagt Achim Gebauer, der Leiter der Agentur. Weißes Leinenhemd und -Hose, halb getönte Sonnenbrille - der 59-jährige Theaterwissenschaftler wirkt jünger. Bevor er mit Kristiane Kupfer das Special Coaching Actors Studio für ausgebildete Schauspieler und später die Agentur Tomorrow für junge Darsteller gründete, arbeitete er als Dramaturg, Übersetzer, Regisseur, Intendant und Produzent. Er lasse sich vom Talent der Kinder überraschen. Nina Monka zum Beispiel sei sechsjährig in die Agentur gekommen und als er ihr sagte, dass sie bis zur Teilnahme am Coaching noch ein Jahr warten müsse, habe sie gesagt: "Dann werde ich also dafür bestraft, dass ich jünger bin." Achim Gebauer hat ihr die Teilnahme daraufhin sofort erlaubt. Nina Monka ist jetzt zehn Jahre alt und eine der meist gebuchten Kinder. In Friedliche Zeiten der Regisseurin Nele Leana Vollmer - der Film kommt in diesem Jahr in die Kinos - spielt sie die kindliche Hauptrolle."Ich sage allen Kindern, die bei uns vorsprechen, dass es hier nicht darum geht, Schauspieler zu werden", sagt er. "Besonders die Mädchen weise ich darauf hin, dass es in diesem Beruf spätestens mit 30 Jahren vorbei ist. Ich weiß natürlich, echte Talente geben auf solche Sprüche nichts."Sie alle haben Blut geleckt und sind nicht mehr zu bremsen: Pauline Schwarz, die 15-jährige Nele Rehahn, die ebenfalls auf der Jugendmesse angesprochen wurde, der zwölfjährige Kilian Küstermann, der seit einem Auftritt im Berliner Ensemble ans Theater will, die achtjährige Charlott-Theres Diekmann, die auch schon zweimal drehte.Nichts ist weiter von einem 14-jährigen Mädchen entfernt als der dreißigste Geburtstag. "Ich denke, dass man mit 30 viel anspruchsvoller ist als ein Kind. Deswegen braucht man eine gute Ausbildung, wenn man in diesem Alter noch spielen möchte." So versteht Pauline den Rat von Achim Gebauer. Nur so kann sie ihn verstehen.Die gute Ausbildung möchte sie unbedingt. Ihre Eltern, beide Lehrer, unterstützen Paulines Wunsch. Zu Hause sehen sie jeden Sonntag den Tatort. Manchmal gehen sie zusammen ins Kino. "Ich sehe am liebsten amerikanische Filme, meine Eltern interessieren sich eher für deutsche Filme wie Sommer vorm Balkon und so, aber meine Mutter geht mit mir auch in Sex and the City."Pauline, ein Mädchen, das Sport und Mathe liebt, gern Jugendromane liest und keine Folge von Türkisch für Anfänger verpasst hat, fragt sich neuerdings im Kino, während sie die Popcornpackung im Arm hält, wie es sich angefühlt haben muss, manche Szenen zu spielen, nun da sie weiß, wie das so ist bei Dreharbeiten.Sie schwärmt von der Arbeit am Premiere-Werbespot, von der Reise nach Budapest auf Kosten der Produktionsfirma, dem Hotel und wie zuvorkommend und nett sie behandelt worden ist. "Am Set herrscht so eine tolle Atmosphäre. Alle gehören zusammen. Alle sind freundlich." So schildert sie den Ausnahmezustand Film während zweier schulfreier Tage. Auch beim beim Coaching in der Agentur ist diese Dynamik zu spüren. "Wir sind eine große Familie", sagt Pauline. Und: "Es gibt kein Konkurrenzdenken."Während der Aufwärmrunde werden sie von Jugendlichen unterrichtet, die nur wenige Jahre älter sind als sie. Es sind Paulines Vorbilder, denn sie alle haben schon richtige Rollen gehabt. Patrick Atzler, Asram Arami, Sabrina Stehnicke."Wir sind Schauspieler! Wir sind fit!" Sie reißt mit den anderen die Arme hoch.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.