Als Rafik Schami vor über 30 Jahren begann, an diesem Roman zu arbeiten, es muss das Jahr 1971 gewesen sein (wie sich aus dem letzten Kapitel rekonstruieren lässt), war ich gerade dreizehn Jahre alt. Unmöglich, Schami zu kennen, denn er war selbst noch sehr jung und mit seiner Flucht nach Deutschland beschäftigt, die ihn von Damaskus über Beirut nach Heidelberg führte. Vermutlich hätte ich diese Reise tollkühn gefunden, hätte ich auf irgendeine Weise davon erfahren. Immerhin lag Heidelberg für mich mindestens ebenso weit weg wie Damaskus, und es wäre ein Abenteuer der besonderen Art gewesen. Aber ich erfuhr hierüber nichts, sondern saß in meinem thüringischen Heimatort über den ersten Gedichten meines Lebens. Ruhig
ig und verträglich plante ich meine Zukunft nicht, denn ruhig und verträglich würde sie ganz von selbst sein.Ich schrieb mit dem radikalen Anspruch der kleinen besessenen Utopistin, und dass ich diese beschränkte Ausweichwelt hatte, rettete mich vor drohenden Auseinandersetzungen. Rafik Schami aber erlebte, was mir nur vorschwebte im Kampf um die Weltrevolution. Immerhin war er als syrischer Kommunist vor den Ba´athisten geflohen - warum eigentlich nach Heidelberg und nicht in die DDR? Die Antwort auf diese Frage hätte meine gläubige Kindheit verkürzt, was gut gewesen wäre, aber sie hätte mir nicht erlaubt, den Widerspruch, der schon in der Bezeichnung "DDR" so offen zutage trat, bis zum bitteren Ende auszukosten - was schlecht gewesen wäre. Denn ich hätte das Beieinanderliegen, die geradezu körperliche Liebe von Tragik und Komik womöglich nicht kennen gelernt, nicht die Schaltstationen des Grauens in der eigenen Familie bis zuletzt eigenhändig bedient, ohne es zu wissen, kurz: Ich wäre vielleicht niemals reif geworden für den Roman, den der Autor schon vergangenes Jahr vorgelegt hat.So aber traf er geradezu auf meine Über-Reife, denn lange schon hatte ich auf so etwas gewartet. Auf eine Geschichte, die sich selbst erzählt. Die nicht ihre Figuren benutzt, uns ein Jahrhundert arabischer Geschichte auseinander zu setzen, sondern sie mit großer Selbstverständlichkeit innerhalb der historischen Koordinaten agieren lässt, die sich wie nebenher miterzählen und uns nahezu unmerklich eine genauere Vorstellung davon liefern als jedes Lehrbuch, jedes gutgemeinte Traktat. Auf eine Geschichte, in der Heiterkeit und Beschwernis einander die menschliche Waage halten ...Der Roman erzählt sich in neun Büchern, stellvertretend seien hier das Buch des Todes, der Liebe, der Schmetterlinge oder der Farbe genannt. Was in diesen neun Büchern, in deren 28 Kapiteln und über 300 kleinen Geschichten zu lesen ist, steht anfangs nahezu ohne Zusammenhang nebeneinander, verwirrt den Leser aber trotz der ungeheuren Vielzahl auftretender Personen nicht, denn jeder der kleinen Geschichten könnte tatsächlich für sich stehen. Erst im Verlaufe der beinahe 900seitigen Lektüre legt sich offen, was die Einzelteilchen miteinander verbindet.Zwei christliche Sippen, die Schahins und die Muschtaks, die sich in dem Dorf Mala als Griechisch-Orthodoxe und Katholiken aufs Unversöhnlichste bekämpfen, bringen zwei Kinder hervor, die sich völlig unbefangen ineinander verlieben, als sie sich in Damaskus begegnen. Diese Anfänge in der Tat noch kindlicher Verliebtheit werden schnell überschattet, als sich die beiden ihre Zunamen zuraunen. In die Illegalität gezwungen von einem mächtigen Sippengesetz, das in Arabien seit über 2000 Jahren den Alltag beherrscht, heiratet Rana schließlich einen ihr Fremden, der sie mit Billigung ihrer Eltern zu Anbahnungszwecken vergewaltigt hat, und wird willentlich und fast kafkaesk zum Kaktus, der in der Wüste geduldig ausharrt. Sie trifft Farid hin und wieder, später auch mit Unterstützung seiner Mutter, einer großen Aufweicherin der Sippenregel. Auch als Farid als kommunistischer Jungfunktionär schwerste Haftbedingungen, ja Folter erleiden muss, findet seine Mutter einen Weg, Rana zu verständigen. Dennoch - oder deshalb? - gerät sie in die Psychiatrie, von wo aus sie nach einem langen Heilungsprozess und unter Begleitung verständnisvoller Ärzte ihren Befreiungsschlag plant: Sie kehrt während einer Moskaureise ihres Ehemannes in ihre Wohnung zurück, löst sie auf, verkauft jegliches Inventar an einen Trödler und macht sich endlich daran, mit Farid, dem es gelingt, den Geheimdienst irrezuführen, nach Beirut zu fliehen und von da aus weiter nach Deutschland.Ein Kriminalfall, der ganz zu Beginn des Romans Rätsel aufgibt, wird am Schluss gelöst: In einem Korb, der über dem Eingang der Buloskapelle in Damaskus hängt, wird eine Leiche gefunden mit einem Zettel in der Tasche seines Pyjamas: "Bulos hat unseren Geheimbund verraten." Matta Blota, ein unehelicher, leicht debiler Bruder Farids, tötet Bulos in jener Nacht, da er Farid und Rana im Libanon in Sicherheit wähnt. Bulos war ein Zögling jenes Klosters, in dem auch Farid und Matta für eine Weile weggesperrt worden waren, und er hatte einen Geheimbund begründet, an den sich insbesondere Matta sein Leben lang gebunden fühlte. Als er erfahren musste, dass Bulos niemand anders als ein später zum Islam übergetretener Abkömmling der Schahin-Sippe war und in hoher Funktion und mit ausgeklügelter Intrige genau jenes Gefängnis übernommen hatte, in dem Farid einsaß, um sich an ihm persönlich für den Tod seines Vaters im Sippenkampf mit besonderer Härte der Folter zu rächen, reift sein Plan.Mit ebensolcher Selbstverständlichkeit, mit der Rana und Farid einander zugetan sind, lässt Matta Bulos für die Niedertracht bezahlen. Wie eine Klammer umgreifen die beiden Kriminalkapitel den Roman sozusagen von links nach rechts, während Frage und Antwort im ersten und vorletzten, zwei Liebeskapiteln, ihn von unten nach oben einfassen: "Und du glaubst wirklich, dass unsere Liebe eine Chance hat?" fragt Farid Rana anfangs, und sie antwortet 9 Jahre und 870 Seiten später mit einem lauten "Ja!".Das Gelingen einer solch erstaunlichen Komposition mutet geheimnisvoll an. Wenn man jedoch erfährt, dass der Autor seit seiner Flucht Syrien nicht mehr betreten hat, dass er nicht einmal zur Beerdigung seiner Eltern einreisen durfte, wird die Bedeutung des verlassenen Landes für ihn auf einmal sehr deutlich. Es ist, als ob er, der ja auf Deutsch schreibt, mit einem vierunddreißigjährigen deutschen Blick auf Damaskus schaute und auf achtundfünfzigjährigen syrischen Fußsohlen durchs ordentliche, aufgeräumte, eingeteilte Deutschland liefe.Deutsch zu schauen und arabisch zu laufen heißt aber nichts anderes, als auch in der Sprache einen Konsens zwischen beidem finden zu müssen. Darin liegt die tatsächlich ungeheuere Bereicherung, die die deutsche Literatur durch einen solchen Autor erfährt: Er erzählt auf Deutsch in arabischer Manier, die Personen werden nicht porträtiert und sind nicht Zentrum der Geschichte, sondern wichtige Details, die dem entstehenden Mosaik in der Ganzheit zu Glanz verhelfen. Das erlaubt es andererseits, Figuren nicht einschichtig darzustellen, sondern ihnen "gute" wie "schlechte" Eigenschaften mitzugeben - etwas, was in der deutschen Literatur noch immer nicht selbstverständlich ist.Schami fügt dem Mosaik das letzte Passstückchen hinzu mit der 304. Geschichte, in der er beiläufig über Verflechtungen seiner Arbeit am Roman mit einschneidenden Erlebnissen seines Lebens erzählt. Das Fiktionale der Geschichte verabschiedet sich mit einem wallenden Wirklichkeitsmantel vom Leser. Oder umgekehrt? Das Reale mit phantastischer Verkleidung? Das nicht herausbekommen zu wollen, darin liegt für mich die schönste Konsequenz beim Lesen dieses wunderbaren Buches.Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe. Roman, Hanser, München 2004, 895 S., 24,90 EUR
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