Lassen Sie mich über Walter Hasenclever sprechen. Fünfzig Jahre war Hasenclever alt, als er, in einem französischen Lager interniert, Selbstmord beging. Er war einer der wichtigsten Dramatiker und Lyriker des deutschen Expressionismus, seine Stücke wurden nach dem ersten Weltkrieg von vielen Bühnen aufgeführt. Dann wechselte die Mode, die expressionistischen Stücke verschwanden von den Spielplänen, und Hasenclever schrieb nun sehr erfolgreiche Unterhaltungskomödien. Mit Hitlers Machtantritt war auch diese Zeit für ihn beendet, er musste emigrieren. Als die Franzosen ihm keinen Schutz mehr boten, sondern den Wünschen und dem Druck des 3. Reiches nachgaben und ihn wie viele andere deutsche Antifaschisten festsetzen, um ihn auszuliefern,
Ein schöner Gedanke
Motor Warum Deutschland wieder die prägende Kraft eines Bildungsbürgertums braucht
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n, floh er nochmals, emigrierte er in den Tod. Nach 1945 erschienen seine Texte in Deutschland erneut, seine Stücke wurden von den deutschen Bühnen wieder gespielt, in meiner Jugend konnte ich mehrfach Komödien von Hasenclever sehen, die Theater und das Publikum schätzen seine leichten, amüsanten Lustspiele. Dann wechselte die Zeit aufs neue und mit ihr die Moden, und heute wird Hasenclever nicht mehr gespielt. Den neuen Generationen sagt sein Name nichts, er scheint vergessen zu sein. Die Walter-Hasenclever-Gesellschaft wehrt sich gegen diese Auslöschung, setzt Zeichen gegen dieses Vergessen. Das ist umso verdienstvoller und ehrenwerter, als es nicht nur ein Signal gegen die Zeitmode ist, sondern auch Widerstand gegen einen Sieg von Hitler bedeutet, ein Widerstehen gegen die Barbarei, gegen den Versuch einer Auslöschung, die das 3. Reich an der deutschen Kultur und den Künstlern mit nachhaltigem Erfolg vornahm. Deutschland hatte eine reiche Kultur. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts war sie weltweit beachtet, und in einer völlig neuen Kunst, der Kinematographie und des Tonfilms, war Deutschland gar die unbestritten führende Nation. Dann schlug die Barbarei zu, und Auschwitz oder Exil beendeten diese Blüte. Bis heute hat sich Deutschland nicht wirklich davon erholt. Wir sind bemüht, wir können gelegentlich Erfolge vorweisen, aber die Schwierigkeit mit der Kultur - mit allen Kulturen, wie der Landwirt weiß - ist die jahrelange, die jahrzehntelange Pflege. Eine Autobahn kann fast über Nacht geschaffen werden, da waren wir in der Nazizeit führend und sind es nach wie vor, aber Kulturen wachsen unendlich langsam, setzen, wenn sie gedeihen, Jahr für Jahr ein paar Knospen und Blätter mehr an, sind vielfältig von Hitze, Feuer und Frost bedroht, haben Rückschläge zu verkraften, brauchen fortwährende Pflege, bevor endlich die erhofften und erwünschten Früchte reifen. Und die menschliche Kultur benötigte Jahrhunderte, um zu blühen, um zu reifen. Mit einem einzigen barbarischen Axthieb ist eine solche reiche Kultur unwiederbringlich zu vernichten, wurde eine reiche Kultur, wurde die deutsche Kulturnation nachhaltig geschädigt.Und nicht allein die Wissenschaftler und Künstler wurden vernichtet oder vertrieben, wir alle haben Verluste erlitten und zu verkraften, denn mit den Wissenschaften und Künsten verschwand Humanität. Das deutsche Bildungsbürgertum, oft geschmäht und verspottet, war der Träger und Motor dieser gebildeten Nation. Es war fördernd, aber auch fordernd, setzte Maßstäbe, gab ein Niveau vor, das nicht ungestraft unterschritten werden konnte. Bildung und Kultur waren der Humus, aus dem heraus jenes Deutschland erblühte, das einst von der Welt bewundert und beneidet wurde, der Humus, aus dem eine Nation entstand, die der Welt einst ein Beispiel war. Von der deutschen Kulturnation wurde viel erwartet, und sie erbrachte viel in den Wissenschaften und Künsten, im Handwerk, in der Technik, in Wirtschaft und Staatskunst. Noch wenige Jahre vor dem Beginn der Nazidiktatur war es weltweit undenkbar, dass diese Nation in eine solche Barbarei verfallen könnte, die für die ganze Welt lebensbedrohlich wird und die das eigene Land in einen Abgrund führt, dem wir auch nach Jahren und Jahrzehnten noch verhaftet sind. Ein amerikanischer Publizist sagte, dass es im Verlauf der Geschichte mehrere Völker gab, die verfolgt und nahezu ausgerottet wurden, aber allein das jüdische Volk wurde zum symbolischen Volk der Opfer. Und es gab mehrere Nationen, die für ihre Nachbarn tödlich waren und sie vernichteten, aber für die Welt wurden die Deutschen zum symbolischen Volk der Täter. Und dieser Makel und diese Vergangenheit, sie holen uns immer wieder ein, weil Vergangenheit nicht vergehen kann. Anders als Zukunft und Gegenwart bleibt sie unverändert festgeschrieben, kann verdrängt und zeitweise vergessen werden, ist aber auch dann nicht gelöscht. Wir können unsere Gegenwart gestalten, wir bemühen uns, nach unseren Möglichkeiten die Zukunft vorherzusehen, um sie zu unserem Vorteil zu nutzen, nur die Vergangenheit ist dem menschlichen Eingriff für immer entzogen und bleibt dauerhaft unverrückbar. Und so kam für uns Deutsche zu den großen Leistungen der vorhergehenden Generationen, auf die wir zu Recht stolz sind und die wir gern vorweisen, auch die unvergängliche Last von zwei Weltkriegen und einem Völkermord. Es ist eine Last, die auch kommende Generationen auszuhalten und zu tragen haben, was für junge Menschen empörend sein mag und schwer annehmbar, da sie, die viele Jahrzehnte später erst zu Welt kamen, scheinbar nichts mit diesen Morden verbindet. Doch Herkunft und Vaterland, Muttersprache und nationale Identität prägen auch ihnen den Stempel jenes Verbrechens auf, und es ist überhaupt nicht absehbar, wann für die Welt dieses Signum der Deutschen verblasst und vielleicht durch andere Leistungen in den Hintergrund gerät. Einer jener Vertriebenen, die in den USA eine neue Heimat fanden, Fritz Stern, sprach über eine "verspielte Größe", als er jüngstens über Deutschland sprach. Und als er sich mit Freunden über die enormen Leistungen von Deutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterhielt, sagte einer von ihnen, Raymond Aron: "Es hätte Deutschlands Jahrhundert sein können." Wie bedeutsam dieses Deutschland war, belegt nicht zuletzt der überragende Anteil von Nobelpreisen, die Deutsche vor 1933 erhielten. Es wurde Deutschlands Jahrhundert, freilich in einem ganz anderen Sinn, nicht geprägt von der Geisteselite, von dem deutschen Bildungsbürgertum, von einem Einstein, einem Hahn, einer Meitner, einem Laue, von den Brüdern Mann, einem Brecht, einem Tucholsky, einem Hasenclever, sondern von einem Adolf Hitler. Und die Katastrophe brach über Deutschland herein nur wenige Jahre nach einer anderen von Deutschland verschuldeten Katastrophe, dem 1. Weltkrieg. Wie nach 1945 gab es auch 1918 bei den Siegermächte anfänglich die Überlegung, Deutschland an einem Wiederaufstieg zu hindern, es zu zerstückeln, es zum Agrarland zu machen. Damals wandte sich Walther Rathenau an die mächtigsten Politiker der Welt mit der Mahnung, Deutschland nicht zu zerstören. Er schrieb 1918 in einem offenen Brief: "Noch vor vier Jahren waren wir scheinbar Ihresgleichen. Scheinbar, denn uns fehlte, was den Staaten die Festigkeit des Daseins gibt: die innere Freiheit." Bald danach hatten wir nicht die erhoffte innere Freiheit gewonnen, sondern verinnerlichten Disziplin und Gehorsam, die aus den Angehörigen einer Kulturnation Mörder machte. Wie Sie bemerken, spreche ich über Walter Hasenclever. Die deutsche geistige Elite wurde damals interniert, verbannt, ermordet. Deutschland verarmte und brach damals darüber in Jubel aus. Bei einem Finanz- und Bankencrash ist man bestürzt , besorgt, verzweifelt, der geistige Crash wurde seinerzeit mit Fackelzügen gefeiert. Die Humanität, auf die Deutschland zu Recht so stolz war, erwies sich als dünne, zerbrechliche Kruste über der jahrtausendealten Barbarei. Und die alten Todsünden des Menschen, Habgier und Hass, Neid und Verrat, Egoismus und Mordlust, brachen hemmungslos hervor und veränderten Land und Gesellschaft. Der Abgrund, in den das 3. Reich Deutschland führte, prägte dem Land und der Nation ein Brandmal auf, dessen wir uns heute schämen, das aber noch immer feuerrot leuchtet, jedenfalls wenn man den Blick von außen auf unser Land richtet, wie wohl jeder von uns erfahren hat, der sich nicht nur als zahlungskräftiger Tourist von höflich schweigenden Gastgebern umsorgen lässt, sondern sich auf ein Gastland wirklich einlässt. Die geistige Elite verschwand damals, viele starben in deutschen Lagern, im Elend der Fremde oder - wie ein Hasenclever und Tucholsky - verzweifelt durch Selbstmord. Von denen, die überlebten, kamen einige zurück, sie bemühten sich, so rasch wie nur möglich in ihr Vaterland zurückzukommen, denn man kann einen Menschen aus seiner Heimat nehmen, aber nicht die Heimat aus einem Menschen. Sie kamen sehnsuchtsvoll zurück, doch diese Rückkehrer, denen man das Vaterland genommen hatte, galten nun vielen Deutschen als Vaterlandsverräter. Man hatte sie vergessen und verstoßen, ihre Rückkehr riss alte Wunden auf, an die man nicht erinnert werden wollte. Hätten Tucholsky und Hasenclever überlebt und wären sie zurückgekommen, ihr Schicksal im neuen Deutschland wäre wohl kaum glücklicher verlaufen als das eines Walther Mehrings, der zurück kam, um hier, völlig vergessen, zu verhungern. In nur wenigen Jahren hatte Deutschland seine Größe verspielt, eine Größe, die unstrittig war und weltweit anerkannt. Das Verspielen geht stets schnell und leicht, spielend zurückgewinnen lässt es sich nicht, das geht nur sehr langsam, Schritt für Schritt. Wir sind weit gekommen, gewiss, aber noch unendlich weit von jener Höhe entfernt, auf der sich Deutschland einmal befand. Die Globalisierung, die die nationalen Regierungen zunehmend bedeutungsloser werden lässt und ihnen Macht und Machtinstrumente aus der Hand schlägt, erschwert gewiss diesen Wiederaufstieg. Die Globalplayer suchen andere Erfolge, schätzen andersartige Ergebnisse, messen das Glück des Menschen und sein Unglück an den Zahlen des Kontoausdrucks. Und möglicherweise belächeln die postmodernen Jet-Sets ein solches Bestreben, da sie sich als Europäer oder gar Weltbürger verstehen und das Nationale als Provinzielles verachten. Aber das, was groß werden will, muss erst heranwachsen, benötigt Muttererde, muss gedeihen können, braucht Bildung, Kultur, Stille. Ich denke, Deutschland benötigt wieder die prägende Kraft eines Bildungsbürgertums, braucht dessen Pädagogik, benötigt es, von ihm gefördert zu werden, aber auch gefordert. Die stattdessen raumgreifende postmoderne Beliebigkeit mag unterhaltsam und amüsant sein, aber sie führt uns in die Irre, in eine betäubende Sinnlosigkeit, mit der man eine Generation oder eine Bevölkerungsschicht, die von einem effektiv und rational handelnden Management im Produktionsprozess nicht benötigt wird, ruhig zu stellen versucht. Wir brauchen wieder das Bildungsbürgertum. Und wenn Sie mich jetzt fragen, was das für mich sei, so will ich es Ihnen mit zwei Bildern beschreiben. Einmal ist es ein kleiner Kreis von Frauen und Männern aus sehr verschiedenen Berufen, drei Beamte sind dabei, ein Bankfachmann, eine Redakteurin, zwei Professoren, ein paar junge Wissenschaftler, ein Handwerksmeister, eine OP-Schwester, ein Pfarrer. Sie treffen sich regelmäßig einmal im Monat, um dann über ein Buch zu sprechen, über eine Biografie, einen Essayband, einen Roman, ein geschichtliches Werk. Keiner von ihnen benötigt die Lektüre beruflich, aber alle benötigen sie. Das meine ich. Und zum anderen ist es ein Foto, auf dem Albert Einstein zu sehen ist, der Geige spielende Einstein. Und wann immer ich dieses Bild sehe, denke ich darüber nach, wie hoch wohl der Anteil der Geige und wie gewichtig der Beitrag von Mozart und Beethoven an der Entwicklung der Relativitätstheorie waren. Gering schlage ich diesen Anteil nicht an, auch wenn er nie nachweisbar sein kann. Vor zwei Jahren schlug eine Politikerin vor, dass in unseren Schulen jedes Kind ein Musikinstrument seiner Wahl erlernen solle. Ein schöner Gedanke, denn jedes Kind hat irgendeine Begabung, einen göttlichen Funken in sich, den man entwickeln, zum Leuchten bringen oder mit Hilfe der preußischen Sekundartugenden ersticken kann. Ich hoffte, der Industriellenverband und das deutsche Handwerk würden - aus ganz egozentrischen Gründen - diesen Gedanken aufgreifen und unterstützen, denn sie benötigen einen vielseitig gebildeten Nachwuchs. Doch das deutsche Management war anderweitig beschäftigt. Es bemühte sich in dem Pyramidenspiel der Banken und weltweiten Finanzwirtschaft mitzuspielen, in einer Lotterie, bei der letztendlich alle Millionäre sind und keiner mehr etwas in der Tasche hat. Wie Sie bemerken, spreche ich noch immer über Walter Hasenclever, den fast vergessenen Sohn der Stadt, der sich umbrachte, als jene Welt, der er sich mit all ihren Werten verbunden fühlte, an die er existentiell gebunden war, in den Abgrund gerissen wurde, als Deutschland unterging, als seine Größe verspielt wurde. Das Wissen um das Verlorene aber kann uns helfen, das wache Bewusstsein von vergangener Größe, von Verlust und beängstigender Schuld kann uns motivieren, bewegen, voran bringen. Denn zum Lernen und Hinzulernen gehört auch das Nicht-Vergessen, das Sich-Erinnern. Darum ist der Hasenclever-Gesellschaft zu danken: Sie sorgt sich nicht allein um die Erinnerung an einen Schriftsteller, sondern mahnt an deutsche Geschichte, an eine große, aber auch an eine grauenvolle Zeit, die wir überstanden haben, an eine schwierige, eine schwere deutsche Geschichte, einen Kulturbruch, der Deutschland veränderte und der wohl noch für Jahrhunderte das Bild der Deutschen im Ausland prägen wird. Christoph Hein, geboren 1944 in Schlesien, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2008 der Band Frau Paula Trousseau. Die Rede hielt Hein anlässlich der Verleihung des Walter Hasenclever-Preises der Stadt Aachen.
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