Mittagspause eines Genies und Wiener Hofoperndirektors: "Das Essen zu Hause mußte um ein Uhr auf dem Tisch stehen. Wenn Mahler in der Oper wegging (der Fußweg von dort zur Wohnung am Rennweg benötigte etwa 15 Minuten), telephonierte der dortige Diener nach Hause: Der Herr Direktor sind soeben gegangen. Das Mittagessen wurde vorbereitet, Mahler läutete, wenn er unten am Haus angelangt war, so daß die Suppe dampfend auf dem Tisch stehen konnte, wenn er im vierten Stock war. Selbst die Wohnungstür mußte offen sein, damit er nicht lange nach dem Schlüssel kramen mußte." Und auch wenn er in seinem Sommerhaus am schönen Wörthersee Ferien machte, gab der Maestro strenge Order: "Wenn er aufwachte, gab er sofort der Köchin Anweisung fü
Ein sonderbares Genie
Nahaufnahme Gustav Mahlers Leben, beschrieben von Jens Malte Fischer
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s Genies und Wiener Hofoperndirektors: "Das Essen zu Hause mußte um ein Uhr auf dem Tisch stehen. Wenn Mahler in der Oper wegging (der Fußweg von dort zur Wohnung am Rennweg benötigte etwa 15 Minuten), telephonierte der dortige Diener nach Hause: Der Herr Direktor sind soeben gegangen. Das Mittagessen wurde vorbereitet, Mahler läutete, wenn er unten am Haus angelangt war, so daß die Suppe dampfend auf dem Tisch stehen konnte, wenn er im vierten Stock war. Selbst die Wohnungstür mußte offen sein, damit er nicht lange nach dem Schlüssel kramen mußte." Und auch wenn er in seinem Sommerhaus am schönen Wörthersee Ferien machte, gab der Maestro strenge Order: "Wenn er aufwachte, gab er sofort der Köchin Anweisung fXX-replace-me-XXX252;r das Frühstück, das diese dann ins Komponierhäuschen bringen mußte. Die Köchin war angehalten, zumindest für den Rückweg einen anderen Weg als den normalen zu wählen, damit der aufsteigende Mahler sie nicht zu Gesicht bekam. Er war meistens schon so in die gedankliche Arbeit an seiner Musik vertieft, wenn er loslief, daß er ein bekanntes Gesicht und die nötige Reaktion darauf unbedingt vermeiden wollte."Solche Einzelheiten aus dem Leben eines großen Mannes sind interessant, sie werfen ein Licht auf die Bedingungen, unter denen das Werk entstand, das uns eigentlich zu interessieren hat, und man erfährt derlei naturgemäß nur in den dicken Biographien, wie sie zum Beispiel der Münchener Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer über Gustav Mahler vorgelegt hat, den bedeutendsten aller Sommerferienkomponisten. Froh wurde sie begrüßt als eine der biographischen Großtaten der letzten Zeit, zu stellen neben Corinos Musil oder Rainer Stachs Kafka. Tatsächlich ist Fischers Lebensbeschreibungsprojekt imposant, an die tausend Seiten bieten Raum für noch manches schöne Detail. Doch mit einer Bahnbrechung haben wir es im Falle Mahler kaum zu tun: Wenn uns der Autor am Ende des langen Gangs durch das Werden und Wirken vorzählt, dass inzwischen von Mahlers beinah zehn Symphonien zur Zeit 17 Gesamtaufnahmen auf dem Markt sind (von Bruckner, dem Antipoden der symphonischen Großform, bloß drei), dass es von Mahlers Erster sage und schreibe 43 Produktionen gibt, von Beethovens Erster aber nur 35 - dann spätestens dämmert uns, dass seine Zeit ja doch lange schon gekommen ist."Meine Zeit wird kommen" - einer der gern zitierten Mahlersätze, und gern aus dem Satzzusammenhang gerissen. Fischer stellt ihn wieder her und also richtig - "wenn die seine um ist." Gemeint ist der große Andere, Richard Strauss, und ein bisschen recht hat er ja behalten. Im Konzertsaal jedenfalls nehmen Mahlers symphonische Großbauten heute mehr Platz ein als Straussens "symphonische Dichtungen", und wenn Simon Rattle 2002 sein Antrittskonzert mit den Berliner Philharmonikern mit Mahlers Fünfter gab, ist das kein Zufall, sondern passt irgendwie gut in diese Berliner Republik. Hauptstadtmusik.Mahler muss man nicht mehr entdecken, und auch ein paar dicke Bücher stehen bereits im Mahlerregal der Musikwissenschaft, drei Bände etwa von Constantin Floros, und Henry-Louis de La Granges Chronique d´une vie wird es in der englischen Neuausgabe auf gar vier Bände bringen. Auch an Biographien und Werkgeschichten fürs Publikum ist kein Mangel; Fischers Buch schließt streng genommen keine Lücke, und ganz und gar "unverzichtbar" (Klappentext) für den Mahler-Freund ist es vielleicht auch nicht. Aber wenn es dreiundvierzigmal die "Erste" zu hören gibt, warum soll man nicht des Meisters zweifellos interessantes Leben in Varianten zu lesen bekommen? Diese hier muss man keineswegs bereuen.Der fremde Vertraute - der Titel gibt das Programm. Denn wenn hier schon nicht der große Unbekannte vorzustellen ist, dann doch eher den Vertrauten in jene Art von Fremde distanzieren, die erst Erkenntnisgewinn möglich macht. Das gelingt Jens Malte Fischer meistenteils, obwohl er seinen Gegenstand aus großer Nähe beschreibt, mit dem heißen Herzen des Liebhabers. Da gesteht der Biograph einmal, die Darstellung (der Ehekrise Mahlers) bereite ihm "Pein, weil sie den Helden dieses Buches in einer verzweiflungsvoll-ausweglosen Situation zeigt und weil sie diesen gewaltigen Geist, diese widerspruchsvolle, aber grandiose Persönlichkeit in einem Zerfallsprozeß darzustellen scheint, der an eine Dissoziation denken läßt." Derart aufgeklärt ist die Liebe des Biographen zu seinem Gegenstand, dass er sogar der schlimmen Alma Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Sie ist jene "kokettierende Femme fatale im Puppenstadium", das seinerzeit "schönste Mädchen von Wien", das dem Genie den Kopf verdreht und ihn unglücklich macht, das er mit einem legendären (vermutlich der Nachwelt nützlichen) "Komponierverbot" belegt, das seine Musik nicht verstand und ihn mit dem aufstrebenden Architekten Walter Gropius nach Strich und Faden betrügen wird. Der geschichtsklitternden Memoirenpolitik der späteren Frau Werfel misstraut Fischer, ohne gleich in den geifernden Hass der Alma-Feinde zu verfallen - wenn etwa ein besonnener Mann wie der Mahlerianer Hans Wollschläger sich über das "bis zur Hirnrissigkeit konfuse Geschwätz" der Mahlergattin erregt, oder Claire Goll über eine spätere Begegnung mit der Werfel-Witwe notiert: "Diese aufgequollene Walküre trank wie ein Loch." Und als Ursache für Mahlers frühen Tod nimmt Fischer denn auch jene Halsentzündung an, die im August 1910 auf sein vorgeschädigtes Herz wirkte: ein Streptokokkenangriff war es, und nicht (gemäß der Mahlermörderinnenthese) der Todesstoß eines (womöglich bewusst) fehlgeleiteten Liebesbriefs von Gropius, der fatalerweise beim Ehemann landete. Obwohl auch diese Eheszene schön auserzählt ist.Alles das ist interessant, und Fischer, der sogar ein paar bis dahin unbekannte Briefe einsehen konnte, weiß den biographischen Stoff klug zu disponieren. Klug auch die Durchbrechung der Chronologie durch thematisch zusammenfassende Exkurse: Mahler und die Literatur, Mahler, der Dirigent, Judentum, Krankheit, Glaube. Auch zum komplexen Verhältnis Mahlers zum Hintergrund des Fin de siècle, als dessen unmittelbarer "Ausdruck" seine Musik gern vereinfachend verstanden wird, weiß er, Autor bereits einer großen Studie zum Thema ("Jahrhundertdämmerung. Ansichten eines anderen Fin de siècle") genau zu differenzieren. Das Leben und seine Kulissen, die Wirkungsstätten des Dirigenten werden von Bad Hall und Olmütz über Kassel und Budapest, Hamburg, von der großen Opernreform in Wien bis zum eher traurigen Ende in New York gut ausgeleuchtet; dagegen bleiben die eingeschalteten Werkerläuterungen dürftig. Nach richtigen Feststellungen zur Problematik, in Mahlers Symphonien "Programme" aufzuspüren, hält er sich etwa im Fall der beliebten Zweiten (Auferstehungssymphonie) überwiegend mit der Nacherzählung eben des Programms auf, das Mahler einmal in einer schwachen Stunde verfasst hatte. Was Fischer über den eigentlichen Grund unseres heutigen Interesses am Leben jenes den Zeitgenossen vor allem als unbarmherzigen Stardirigenten wahrgenommenen Gustav Mahler zu sagen hat - die neuneinhalb Symphonien, das Lied von der Erde, die Kindertotenlieder - fällt weit schwächer aus, schwächer als es im Rahmen einer Biographie wohl sein müsste. Das hat er übrigens mit Corinos kolossalem Musil gemeinsam. So nah hat Fischer sich auf das "Leben" seines Helden fokussiert, dass ihm dabei aber nicht nur eine Lebens-Geschichtsschreibung, sondern auch eine eindrucksvolle Körper-Biographie gelungen ist, vom ersten Kapitel, einer eingehenden physiognomischen Annäherung, bis zur genauesten Analyse der Krankheit zum Tode.Überraschend für ein Unternehmen dieser Kategorie erscheinen seine stilistischen Blößen, eine fatale Neigung, Sätze mit Klammereinschüben zu überfrachten, vor allem in der ersten Hälfte wirkt das wie ein dauerndes Beiseiteplappern von einem, der sein Wissen nicht halten kann. Wenn es denn immer Perlen wären. Hier sind sie oft nur Symptom einer ungezügelten Schwatzhaftigkeit: "Mit Mahlers Kurzsichtigkeit, die so oft beschrieben wurde und, wie gesagt, aus einem Blick auf viele Photographien ersichtlich ist (wer wollte bestreiten, daß es den typischen Blick des Kurzsichtigen gibt), hat es noch eine merkwürdige Bewandtnis." Die Bewandtnis ist, dass eine angeblich erhaltene Mahlerbrille keine sein kann. - Dass Mahlers Geburtshaus, "ebenerdig sich hinduckend", eine "gewisse Ähnlichkeit" mit dem Verdis in Busseto hat - was für eine Bewandtnis soll es mit dieser Feststellung haben? Ungut Fischers Hang zu absoluten Superlativen: M. der "genialste", der "größte", der "ungewöhnlichste" Dirigent seiner Zeit. Das weiß er ganz genau; anderes nicht so: "Das Erfolgshonorar konnte durchaus beträchtlich sein und betrug einen gewissen, mal größeren, mal kleineren Prozentsatz des ausgehandelten Honorars." Aha. Es gibt Wiederholungen: die Wiener Opernreform wird uns gleich mehrmals erzählt, Zitate tauchen auf engem Raum noch einmal auf; in der nützlichen kommentierten Diskographie wird die Mahler-Symphonie-Abstinenz des Dirigenten Daniel Barenboim fast schon als "Fall" verhandelt, dabei gibt es seit 1998 eine Einspielung der Fünften, keineswegs eine entlegene Produktion - das alles lässt auf eine fehlende Endredaktion schließen, die ein Opus dieses Kalibers verdient hätte. Die Liste solcher Detailmäkeleien ließe sich verlängern, und sollte doch den Blick dafür, wie Fischer das Leben Gustav Mahlers zu beschreiben versteht, nicht trüben. Ein anderer Einwand versteht sich grundsätzlicher.Adornos Mahler-Buch von 1960 wird mehrfach als wichtiger Beitrag zur Erkenntnis dieses sonderbaren Genies erwähnt, aber auch nur erwähnt, kaum für den Gegenstand fruchtbar gemacht. Dabei zeigt schon ein einziger zitierter Adornosatz, wovon denn doch zuviel geschwiegen wird in einem Buch, dass sich den "fremden Vertrauten" zum Thema wählt, über die imponierende Vertrautheit mit dem Leben des Beschriebenen aber dessen unauflösliche, weil essentielle Fremdheit zu versäumen droht: "Desperat zieht sie [Mahlers Musik] an sich, was Kultur verstößt, so armselig, verwundet, verstümmelt, wie Kultur es ihr übermacht. Das Kunstwerk, gekettet an Kultur, möchte die Kette zerreißen, Barmherzigkeit üben am schäbigen Rest; jeder Takt bei Mahler öffnet weit die Arme." Hier könnte man weiterfragen. Aber das wäre eine andere Geschichte.Jens Malte Fischer: Gustav Mahler. Der fremde Vertraute. Zsolnay Verlag. München 2004, 992 S., 45 EUR
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