Tag und Nacht" heißt die Kammeroper von Annette Schlünz, mit deren Uraufführung der Deutsche Pavillon auf der EXPO2000 in Hannover am 1. Juni sein Kulturprogramm eröffnet. Der Titel ist nicht ohne Hintersinn. Wie Tag und Nacht stehen sich der vorherrschende Event-Kultur-Teil und das noch von August Everding für den Veranstaltungssaal des Deutschen Pavillons entworfene Programm gegenüber. Der als sein Nachfolger berufene Peter Baumgardt hat es im Sinne der Moderne eher noch mehr radikalisiert, als es vor Jahren schon vorgedacht war. Die EXPO2000 schwingt somit das Banner der Künste. Es wäre weniger zu erwarten gewesen. Aber es ist so. Die deutsche Kulturlandschaft, mit deren Ausdünstung Politiker fast aller Parteien angelegentlich beschäftig
tigt sind, wird sich im Veranstaltungsaal des Deutschen Pavillons in Hannover zwischen dem 1. Juni und dem 31. Oktober mit Konzerten, Liederabenden, Theateraufführungen, Installationen, Diskussionen, Workshops präsentieren.Vom Medienrummel, der die EXPO2000 überschwemmen wird (deshalb macht man sie ja), grenzt sich dieses Programm damit ab. Erstens kommen statt des glitzernden Entertainments die Stadttheater, die Chöre und Ensembles, die Schriftsteller und Dichter, die Schauspieler, Sänger und Instrumentalisten. Zweitens kommen sie nicht mit Brahms, Beethoven, Schiller und Fontane, sondern mit Neuem. Das ist fast unvorstellbar. 16 deutsche Theater stellen 16 neue Stücke, der größte Teil Uraufführungen, vor. Cottbus kommt mit einer neuen Performance und mit Volker Brauns Der Staub von Brandenburg, Saarbrücken mit einem neuen Dornröschen-Ballett von Olga Neuwirth (Libretto Elfriede Jelinek) Der Tod und das Mädchen II, Mannheim mit einer Neufassung von Matthias Pintschers Gesprungene Glocken, Frank Castorffs Berliner Volksbühne mit der eigens für Hannover inszenierten Rollenden Road-Schau Rosa-Luxemburg-Platz, Trier mit der Trilogie der Sommerfrische nach Goldoni von Ingomar Grünauer, Meiningen mit Formel Einzz von Christian Martin.Ein Literaturfest unter dem Titel Wörter:Welt, arrangiert von der Hamburger Autorin und Regisseurin Brigitte Landes, präsentiert vorwiegend junge Autoren mit neuen Texten. Zwei Exponenten der Lied-Moderne, der Sänger Yaron Windmüller und der Pianist Axel Bauni, entwarfen eine Woche des Liedes (Lied:Strahl, 14.-20. August). Zwölf Komponisten, darunter Aribert Reimann, Moritz Eggert, Steffen Schleiermacher, Charlotte Seither, schreiben dafür neue Lieder. Eine anderer Zyklus, konzipiert von der aus Polen stammenden und in Karlsruhe wirkenden Dirigentin Alicja Mounk, nennt sich musik20: eine Serie von 25 Konzerten mit neuen Ensemblemusiken. Orchesterkonzerte können es aus Raumgründen nicht sein, denn der Deutsche Pavillon verfügt nur über einen kleinen Saal, dessen Podium höchstens Platz für ein Mozart-Orchester bietet, das sich hier aber nicht ereignet. Auch diese Konzerte, mit programmatischen und manchmal rätselvollen Überschriften (Prometheus, BauLand - Berliner Grube etc.) bringen neue Werke, die im Auftrage des Deutschen Pavillons geschrieben werden. Einige der Namen: Hans-Jürgen von Bose, Peter Ruzicka, Peter Michael Hamel, Georg Katzer, Friedrich Goldmann, Isabel Mundry, Theo Brandmüller, Jörg Widmann. Vier Großen der Moderne wird in den letzten Oktobertagen, kurz bevor die EXPO2000 ihre Pforten schließt, jeweils ein ganzer Tag eingeräumt, an dem ihre Musik erklingt: Aribert Reimann, Hans Werner Henze, Wolfgang Rihm und Mauricio Kagel.Schon einmal präsentierte sich die alte Bundesrepublik als Hort der Moderne: im berühmten Kugelpavillon auf der EXPO1970 in Osaka, in dem Karlheinz Stockhausens damaliges instrumentales und elektronisches Gesamtwerk erklang. 1980 geschieht das zum zweiten Mal. Das inzwischen vereinigte Deutschland präsentiert sich nun erneut durch seine Kultur, in anderer Weise und mit neuen Namen. In dieser Weise war es noch nicht dagewesen. Eine neue Generation meldet sich. Kontroversen stehen zu erwarten, denn viele Programme bewegen sich nicht auf der Höhenlinie gesicherter Prominenz, sondern am offenen Ende der Geschichte. Manches geht auf kunstkritisch nicht ausgeschilderten Wegen. Kehrt Deutschland als Kulturnation zurück? Oder fällt nur der Schatten Everdings auf den Deutschen Pavillon, und every thing is lost, wir wissen's bloß noch nicht. Auch diese Frage stellt sich "Tag und Nacht", um das Traumspiel von Annette Schlünz noch einmal metaphorisch zu zitieren, angesichts mancher aktuellen Diskussion, zumal in Berlin, dessen Obere die ihnen zur Verwaltung zugefallene Kultur mit immer scheelerem Blick betrachten. n
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