Anfang der sechziger Jahre kann man sich wohl kaum einen abgelegeneren Ort vorstellen als die Kleinstadt Wunsiedel. In Franken in der Nähe der Grenze zu Tschechien gelegen, war zur Zeit des Kalten Krieges gleich nebenan die Welt zu Ende. In Wunsiedel. Theaterroman lässt der Heidelberger Dichter und Schriftsteller Michael Buselmeier seinen Helden und Erzähler Moritz Schoppe auf den Spuren seiner Vergangenheit in diesen Ort reisen. Schoppe erinnert sich an den Künstler als jungen Mann, der hier im Luisenburg Freilichttheater im Sommer 1964 dem Regisseur Friedrich Siems bei der Aufführung des Götz von Berlichingen assistieren soll. In der Tasche hat der junge Schauspielschulabsolvent die Bearbeitung des Stücks, die ihm der Regisseur im Herbst zuvor in Auftra
or in Auftrag gegeben hatte. Doch dann war Siems überraschend gestorben, und als Schoppe in Wunsiedel eintrifft, will der neue Regisseur nichts mehr von seiner Bearbeitung wissen. Stattdessen soll das Stück mit den Stellen voll „weihevollem Kitsch“ und „treuherzigem Deutschtümeln“, die Schoppe gestrichen hatte, aufgeführt werden.Bereits die Abreise Schoppes hatte unter keinem guten Stern gestanden. Der Weggang aus seiner Heimatstadt und die Trennung von seiner Mutter fiel ihm schwer. „Ich war todtraurig, sobald ich das Neckartal hinter mir wusste. Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt.“ Hinzu kommt, dass seine Freundin Ulla nicht mitkommen kann. Hier war also keiner ausgezogen, „um das Fürchten zu lernen“, hier ging ein Unglücklicher in die Fremde. Eine Fremde, die ihn nicht haben will. Denn Schoppe kann in Wunsiedel weder etwas mit den Theaterkollegen anfangen noch die mit ihm. Statt auf Künstler trifft er dort, wie er im Rückblick sagt, auf Opportunisten, auf selbstgefällige „Jasager“.KindheitserinnerungImmer wieder erinnert sich Buselmeiers Erzähler, der auf den Spuren des damaligen Sommers durch Wunsiedel läuft, auch an seine Kindheit. Ende der dreißiger Jahre geboren, hatte er im Krieg noch in Luftschutzbunkern mit seiner Mutter Zuflucht suchen müssen. Er erinnert sich an die Schwierigkeiten in der Nachkriegszeit, das enge Verhältnis zur Mutter, die ihn alleine großzieht. Diese Passagen des Buches sind Buselmeier besonders gut gelungen. Das gilt auch für die Erzählung von Schoppes Liebe zu Ulla, die ihn in seinem Wunsiedler Exil beschäftigt. Der Leser ahnt, dass sein Held auch hier kein Glück hat. Nach einigen Wochen eröffnet die Freundin ihm brieflich, dass sie ihren alten Freund wiedergetroffen habe und die alten Gefühle wieder aufgeflammt seien. Sie wäre jetzt ganz durcheinander und den geplanten Besuch in Wunsiedel müsse sie deswegen leider absagen. Sie brauche jetzt erst einmal Zeit für sich. Danach gehen noch böse Briefe hin und her, dann ist es ganz aus.Es scheint, als bräche nun alles über Moritz Schoppe zusammen. Buselmeiers romantischer Held denkt an Selbstmord, geht stundenlang spazieren oder liest in seinem Lieblingsschriftsteller, dem in Wunsiedel geborenen Jean Paul. Eindringlich schildert Buselmeiers Erzähler die Leiden seines Helden und der Leser leidet mit. Mehr schlecht als recht erfüllt er seine Arbeit bei den Luisenburg Festspielen; der Ekel vor dem Theater und den Schauspielern nimmt zu. Nur mit zwei seiner Kollegen, vor allem aber mit Siegfried, einem jüdischen Darsteller, kann er etwas anfangen. Mit ihm trifft er sich öfter nach Feierabend, beide fahren ein paar Mal an einen See und baden. „Kummer eindämmende Ausflüge“, wie es der Erzähler nennt.Anrührende LiteraturWer Michael Buselmeiers Biografie kennt, der weiß, wie autobiografisch Wunsiedel ist. Auch Buselmeier wollte einmal Schauspieler werden. Auch er war Regieassistent und es gab auch eine Inszenierung des Götz im Luisenburg Freilichttheater 1964. Mit der Beschreibung der Kindheit und der unglücklichen Liebe seines Alter Ego ist Buselmeier ein anrührendes Stück Literatur gelungen. Schade nur, dass sein Erzähler an einigen Stellen seiner inzwischen entstandenen Idiosynkrasie gegenüber dem Theater freien Lauf lässt. Die Enttäuschung von damals sitzt offenbar nicht nur Moritz Schoppe, sondern auch seinem Autor noch tief in den Knochen.Zu diesem Eindruck kommt der Leser deshalb, weil die Auslassungen Moritz Schoppes zuweilen zwar die Qualität von Thomas Bernhardschen Beschimpfungen haben, aber gegenüber der eigentlichen Erzählung aus dem Rahmen fallen. Was bei Bernhard an den konsequent von Anfang bis Ende durchgehaltenen Beschimpfungen fasziniert, stößt in Wunsiedel peinlich auf. Schauspieler sind hier „aus der Nähe betrachtet eher Feinde, erbärmliche Wichte und Gefühlsheuchler“, die schon „aufgrund ihres trivialen Geredes Prügel und Schlimmeres verdient hatten“. Hier fehlt dem Autor die notwendige Distanz, die Objektivität gegenüber dem Gegenstand seiner Erzählung. „Die Subjektivität ist eine schreckliche Sache“, hatte Tschechow einmal an seinen Bruder geschrieben. „Sie ist schon deshalb nicht gut, weil sie den armen Autor mit Haut und Haar ausliefert.“ Zum Glück gibt es nur einige Stellen in Wunsiedel. Theaterroman, in der die Subjektivität mit dem Autor durchgeht. Man liest über sie hinweg und erfreut sich an der eigentlichen Erzählung des Buches.