Das ist schon paradox, ein Alphabet der Gefühle anlegen zu wollen. Ein Alphabet hat mit Ordnung zu tun und Gefühle scheinen immer chaotisch, oder sagen wir: überraschend. Aber Parise hat es geschafft, die geheime Ordnung des überraschenden zu zeigen. Gleich die Stichwörter unter A wirken wie die Stützpfeiler einer alltäglichen Geschichte: Amore (Liebe) - Affetto (Zuneigung) - Altri (Die Anderen) - Amicizia (Freundschaft) - Anima (Seele) - Allegria (Freude) - Antipatia (Abneigung). Aber nicht nur innerhalb eines Buchstaben gibt es Verbindungen und so etwas wie eine logische Entwicklung, sondern auch unter den verschiedenen Buchstaben. Amore (Liebe) - Bacio (Kuß) - Carezza (Liebkosung) - Dolcezza (Süße) - Estate (Sommer) - Famiglia (Familie):
e): Aus solch einer Reihe entsteht ein Roman.Goffredo Parise, 1929 in Vicenza geboren und früh, 1986, in Rom gestorben, hat seine Miniaturen der Gefühle - Erzählungen, Skizzen - ursprünglich für den Corriere della sera geschrieben, für den er Journalist war. Sie kamen dann 1972 beziehungsweise '82 unter dem Titel Sillabario in zwei Bänden auf ita lienisch heraus und zwei Jahre nach seinem Tod als Fibel der Gefühle auch schon einmal auf deutsch. Für den zweiten Band erhielt Parise den renommierten Preis Premio Strega, während er für den ersten noch als »apolitischer Reaktionär« beschimpft wurde. Tatsächlich merkt man hier nichts mehr vom politischen Impetus seines Erfolgsromans Der Padrone (der auch bei Wagenbach unter dem Superspruch Ein Roman zwischen Koeppen, Orwell und Vian wieder vorliegt). Im Alphabet gibt es einen Menschen, der Parises Haltung sehr schön zusammenfaßt: »Das Wetter paßte in keiner Weise zum Jahresabonnement einer politischen Zeitschrift.« Die Geschichten sind nicht politisch, aber sozial sind sie doch. Denn im Alphabet der Gefühle wird nicht nur Gefühlen eine Geschichte gegeben, sondern auch Dingen, die Gefühle hervorrufen: Kind, Haus, Rom, Vaterschaft und Vaterland zum Beispiel. Durch die einfache Handlung einer bestimmten Figur werden sie konkret.Solche Projekte wurden auch später versucht, zum Beispiel in der deutschen Literatur von Gerold Späth mit Commedia und in der dänischen von Peer Hultberg mit Requiem. Aber Commedia war eine »Monumentalschau versteinerten Lebens« (so eine Rezension) und Requiem ein Panorama unserer sexuellen Verkorkstheiten. Parise versucht dagegen in der Summe seiner Figuren und ihrer persönlichen Schicksale das lebendige Leben als Ganzes zu entwerfen. Es passiert nicht viel in diesen Geschichten, sie wollen nichts erklären und gehen keinem Problem auf den Grund - auch wenn der Gedanke an Lektionen, die erteilt werden, nicht so weit hergeholt ist. Neben der Freude (Essen, Gerüche, die vielen positiven Gefühle) steht immer das Wissen um die Vergänglichkeit, die Lehre steckt in allem, und sie muß ja, wenn man es recht bedenkt, nicht immer ein Grund zur Trauer sein.Das Wissen um die Vergänglichkeit verbindet Alphabet mit dem jetzt erschienenen Erzählungsband Versuchungen. Es sind Texte, die zwischen 1947 und 1978 in diversen Zeitungen erschienen sind, nicht ganz so konzis wie die Texte in Alphabet, und abgesehen davon fehlt ihnen natürlich die Größe, die so ein Projekt auf Anhieb hat. Aber auch hier scheinen sie insgeheim Gespräche untereinander zu führen, wieder haben wir ein italienisches Panorama, kein Alphabet der Gefühle, aber vielleicht ein Einmaleins der Charaktere: Wir haben den Wohlstandsbürger; den scheinbar Selbstlosen, der am Schluß doch neidisch bemerkt, daß er in der billigen Kantine hockengeblieben ist; die Waise Adelina, die alles über sich ergehen läßt und »an nichts« stirbt, es also selbst im Tod schafft, sozusagen nicht da zu sein. Neben den Menschen beobachtet Parise auch die Häuser, obwohl sie bei ihm - das ist aber ein bißchen literarische Tradition - menschliche Züge annehmen: Auch sie sperren sich der Dauer, sie lassen sich nicht renovieren oder gar ummodeln, sie altern und sterben. In Gehorsam stirbt der eine von zwei Freunden dem andern hinterher, so weit geht die Willfährigkeit.Parise macht das alles hinreißend gut; im Ton steht er Pavese nicht nach, in der Eleganz übertrifft er womöglich Moravia. Eng beieinander stehen Tragik und Banalität (und zeugen keinen Zynismus). Nicht weit ist es auch von der persönlichen Beobachtung zur Lebensweisheit; der Mut zur Verallgemeinerung ist immer beeindruckend, wenn er wirklich im Einzelnen ensteht und nicht bloß Ausdruck dessen ist, was sowieso alle denken. Parises Erzählungen ergeben eine Enzyklopädie des Lebens. Bei ihm wird uns plötzlich vieles klar, ohne daß wir nun wüßten, was künftig zu tun sei. Das ist eine verzweifelte Aussicht, sie ist aber auch sehr tröstlich.Goffredo Parise: Alphabet der Gefühle. Mit zwei Nachworten von Natalia Ginzburg. Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim und Dirk J. Blask. 1996. 334 Seiten. 44 DM. (Auch schon als Taschenbuch) ders.: Versuchungen. Erzählungen. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. 1998. 157 Seiten, 34 DM. Beide Verlag Klaus Wagenbach, Berlin.