Zehn Jahre nach seiner Flucht aus der DDR stellte in der vergangenen Woche der einstige Staatssekretär im DDR-Außenhandelsministerium, Alexander Schalck-Golodkowski, seine mit Deutsch-Deutsche Erinnerungen überschriebenen Memoiren vor. Wir veröffentlichen nachfolgend den Einführungsvortrag, der von Günter Gaus anlässlich der Buchvorstellung in Berlin gehalten wurde.
Es tut nicht gut, eine Nation zu teilen. Auch die Teilung einer Nation in Selbstgerechte und Sündenböcke auf einem Sockel aus Gleichgültigen wird auf Dauer nicht gut tun. Mindestens wird damit die Verwirklichung jenes Vorsatzes verfehlt, der seit dem Ende der staatlichen Teilung Deutschlands stark in Mode ist: der Vorsatz, die Vergangenheit der letzten 50 Jahre aufzuarbeiten, wie
0 Jahre aufzuarbeiten, wie das genannt wird. Aus einer solchen Aufarbeitung - so, wie die Dinge liegen, mehr die der DDR als die der BRD - soll die Nation ihren Sinn für Geschichte, soll sie ihre Geschichtsmächtigkeit zurückgewinnen.Ohne genau zu wissen, was das im einzelnen bedeutet - meinesgleichen in meiner Generation aus gebrannten Kindern hat es gern ein wenig kleiner -, wage ich doch die Feststellung: Wenn historisches Bewusstsein mehr sein soll als ein anmaßendes Vorurteil, so bildet es sich nicht zuletzt aus der Anstrengung, die eigene Parteilichkeit zu zügeln, um Unvoreingenommenheit zu gewinnen - und darin, so scheint mir, haben wir Deutsche es seit der Wende von 89/90 im Umgang zwischen hüben und drüben nicht weit gebracht. Die staatliche Einheit hat uns auch viel Differenzierungsvermögen gekostet.Nach meiner Beobachtung über nun ein Vierteljahrhundert waren die Ostdeutschen in ihrer großen Mehrheit immer interessierter an den Westdeutschen, als es diese umgekehrt waren. Das ist leicht zu verstehen: Die meisten Ostdeutschen sahen naheliegende Wünsche - nicht nur in den Freiheiten des Pluralismus, sondern auch im materiellen Glück - in der Bundesrepublik verwirklicht und unterhalb des Horizonts ihres anders gearteten und ärmeren Staates. Der Neue Mensch, der dem Sozialismus nicht gelang - war er womöglich der sozialen Marktwirtschaft geglückt? Seit einigen Jahren hat das Interesse der Ostdeutschen an den Westdeutschen spürbar nachgelassen.Vorangegangen waren die Erfahrungen mit einer Kulturrevolution. Eine Gesellschaft von 16 Millionen Menschen hatte sich nach der Wende binnen kurzem auf fremde Lebensregeln einzustellen. Der richtige Umgangston in Behörden, der nicht nur im Einparteiensystem, sondern auch im Pluralismus seinen Nutzen hat; das Verhalten am Arbeitsplatz, das keineswegs nur freier geworden war: Allen und allem mussten die Menschen sich neu anpassen.Und hat nun die westdeutsche Mehrheit, die im Gewohnten behaust bleiben konnte - sozusagen im Ausgleich dafür, der inneren Einheit wegen, der neuerlichen Nationwerdung halber -, wenigstens eine anhaltende Neugier auf das real existierende Leben der Mehrheit der Männer und Frauen in der DDR entwickelt, auf dessen gesellschaftliche und staatliche Gegebenheiten?Anfangs - im Frühjahr und Sommer 1990 - konnte man auf westlicher Seite in Grenznähe öfter beobachten, in Hamburg etwa, dass Einheimische auf dem Rathausplatz und vor den Landungsbrücken Fremde, die offensichtlich auf eine Stippvisite aus der DDR gekommen waren, zum Kaffeetrinken nach Hause einluden. In jenem Reiterverein, dem ich seit 30 Jahren angehöre, hatte eines Sonntagvormittags der Vorsitzende eine ganze Omnibusladung Personen von drüben eingefangen und ins Reiterstübchen geschafft. So ist das nun schon lange nicht mehr.Sobald sich herausstellte, dass die Ostdeutschen unter dem SED-Regime keineswegs verkappte Westdeutsche gewesen waren, sondern auch noch danach anders blieben, beschränkte sich das westdeutsche Interesse künftig überwiegend auf bestimmte Segmente der Lebenswirklichkeit in der DDR. Ein einflussreicher westdeutscher Journalist hat mir schon bald nach der Wende gesagt, an der ganzen DDR - vom Politbüro einmal abgesehen - interessierten ihn nur vier Personen: Markus Wolf, Manfred Stolpe, Wolfgang Vogel und Alexander Schalck.Hier treten zutage: Das sektorale historische Bewusstsein, eine marktgerechte Ware und auch politisch brauchbar. Die Reduzierung der deutschen Teilungsproblematik auf das Geheimdienstliche. Die geschichtliche Deutungsmacht von Akten einer gelegentlich kafkaesk wirkenden Behörde, die beim Verwalten ihres papierenen Schatzes dann und wann auch aktuelle politische Absichten im Sinn zu haben scheint.Da ist er nun genannt worden, der Mann, dessen Buch über seine "deutsch-deutschen Erinnerungen" ich hier in Zusammenhänge stelle: Alexander Schalck-Golodkowski. Mehr als jeder andere Funktionär der DDR aus dem zweiten Glied hat Schalck vielfältige Ressentiments auf sich gezogen. Nicht jede Nachrede, die sich daraus ergab, war so extraordinär wie die Charakterisierung Schalcks, die ein Literat gefunden hat, als er hörte, dass Schalck ein Buch veröffentlichen wird: Er bezeichnete Schalck, geboren 1932, als einen "verdorbenen Greis". Ein so schönes, altertümliches Deutsch - und so unbedacht gebraucht.Im heute geläufigen Deutsch wurde Schalcks Name über Jahre hin zu einem Synonym für dubiose Geschäfte von Staats wegen, für spätrömischen Luxus in Wandlitz, für Geldtransporte notfalls auch in Koffern, für die bayerische Connection, für das Überdauern eines Staatsbankrotts am teuren Tegernsee.Und Schalcks Name stand schließlich auch für Verrat an der Reinheit der sozialistischen Idee, sowohl unter stramm antikommunistischen westdeutschen Kommentatoren des Schalck'schen Treibens als auch unter verbitterten Ostdeutschen. Es scheint mir bemerkenswert zu sein - und nicht ohne Komik - wie oft in ein und derselben westlichen Argumentationskette aneinandergereiht werden die Behauptung von einer vorgegebenen moralischen und sittlichen Verkommenheit von Kommunisten und dann das Anlegen ganz besonderer moralischer Maßstäbe an eben diese Kommunisten. Dadurch wird dann das Beschaffen von Softpornos für Honeckers Videorecorder im Wandlitzer Heim (keinem westdeutschen Prokuristen hätte es als standesgemäß gegolten) durch Schalcks Leute zum Nachweis für eine nennenswerte Schande.Schon wieder ein verdorbener Greis, dessen Altersschwäche freilich, wäre er westlich-bürgerlicher, demokratisch-pluralistischer Provenienz, mit einem amüsierten Lächeln zugedeckt geblieben wäre. Wir wissen alle, dass es so ist. Was treibt uns an, von diesem Wissen und Takt abzusehen, wenn es um die sogenannte Aufarbeitung der DDR geht?Manchen Ostdeutschen galt und gilt Schalcks Lebenslauf nach der Wende als ein Beweis, dass Größere eher davonkommen als Kleinere. Gerade auch Männer und Frauen, die wegen einer informellen, oft nur sehr losen und erkennbar harmlosen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR aus ihrem Beruf entfernt wurden, befinden sich mit ihrem Unmut über Alexander Schalck - einst Staatssekretär, Chef der Kommerziellen Koordinierung (KoKo) und Stasi-Offizier - gelegentlich an der Seite von Bürgerrechtlern.Gegen Schalck sind, soweit ich weiß, nach 1990 über 50 Strafverfahren eingeleitet worden. Waren es glimpfliche Jahre für ihn? Wenn ich den richtigen Überblick habe, so ist es am Ende nur in zwei Fällen zu einer Verurteilung auf Bewährung gekommen. Möglicherweise ist es diese Behandlung nach rechtsstaatlicher Norm, die Informelle Mitarbeiter der Stasi dem Alexander Schalck bewusst wie unbewusst verargen. Denn es bleibt die Erfahrung dieser Menschen, und es ist meine Überzeugung, dass nicht alle Konsequenzen, die sich aus Gaucks Akten für Betroffene ergeben, ganz und gar dem sonst juristisch Üblichen entsprechen. Das spricht nicht gegen Schalck.Ich habe gefragt, ob Schalcks Zeit am Tegernsee glimpfliche Jahre gewesen sind. Zu den beängstigenden Kollateralschäden, die sich aus unserer Art der Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte ergeben, gehört, dass eine solche Frage fast regelmäßig die strenge Gegenfrage zur Folge hat, ob man etwa einen Funktionär in einer solchen Staatsnähe - na, was denn sonst? - bemitleiden wolle, indes doch nicht immer ausreichend der Opfer des Regimes der DDR gedacht werde. Nicht immer ganz gefasst, manchmal durchaus fassungslos habe ich die Erfahrung gemacht, dass unsere öffentliche Diskussion über die beiden deutschen Nachkriegsstaaten und über die Zeit nach der Erneuerung des Einheitsstaates sich oft und oft auf dem Niveau der hier beispielhaft gestellten Gegenfrage bewegt.Vor Jahren habe ich in einem Essay diese Diskussionskultur als die der deutschen Geßler-Hüte beschrieben. Man muss diese Hüte grüßen, bevor man zur Sache kommen darf. Und selbst nach einem respektvollen Gruß kann man keineswegs sicher sein, dass nicht alsbald ein neuer Stecken aufgestellt und ein Hut daran gehängt wird, auf dessen Band steht: War es nicht in der DDR schlimmer? Vergisst du die Opfer des Regimes? Wünschst du die DDR zurück?Der Mut, an diesen Geßler-Hüten grußlos vorüberzugehen, wie es eine gesicherte Zivilisation selbstverständlich machte, hat mich mit der Zeit verlassen. Natürlich wäre der verweigerte Gruß im untergegangenen Regime weit schwerer geahndet worden; aber ganz ohne Konsequenzen bleibt er auch heutzutage nicht. Jüngere, abhängige Personen sollten vorsichtig sein.Und auch ich, älter, weniger abhängig, versichere also: Es war früher schlimmer; ich vergesse nicht; ich wünsche nicht zurück. Nachdem ich dies getan habe, sage ich: Nein, ich meine nicht, dass die Zeit seit der Wende nur glimpfliche Jahre für Alexander Schalck-Golodkowski gewesen sind.Mein Anspruch, übrigens, an die Gesellschaft, in der ich lebe, geht über das System der Geßler-Hüte hinaus. Manchmal argwöhne ich, dass aus der entschwundenen DDR manche Eigenheiten ins staatlich vereinigte Deutschland übernommen worden sind, die mich schon an der DDR abgestoßen haben. Natürlich sind diese Eigenheiten stark abgemildert und ganz pluralistisch.Aus den Zusammenhängen, in die Schalck und sein Buch gehören, nun unmittelbar auf den Autor und seine deutsch-deutschen Erinnerungen zurück. Wie wird das Buch aufgenommen werden? Sind wir allmählich der Kolportage überdrüssig, zu der tonangebende Medien die deutsch-deutsche Geschichte degradiert haben? Ich bezweifele es.In einem Beitrag zu dem Buch im Kulturreport der ARD war Alexander Schalck mit einem ganz einfühlsam gesungenen Schlager zu hören. So war er dem Klischee dienlich, mit dem das Filmchen betitelt war: Nun singt er endlich. Vermutlich wird überwiegend ein Enthüllungsbuch erwartet. Wird sich die Öffentlichkeit von dem einmal in ihr verankerten Bild einer spektakulären Figur trennen können?Wenn Schalck im Fernsehen singt, so verwirklicht er jedenfalls sein starkes Talent für Marktwirtschaft in einem System, das dafür eher geeignet ist als jenes, in dem er aufstieg.Ich habe Alexander Schalck als einen zuverlässigen, korrekten Verhandlungspartner schätzen gelernt, der unter den gegebenen Verhältnissen die Interessen seines deutschen Staates zu wahren suchte, wie ich die Interessen des meinigen. Wir erwiesen uns als kompromissfähig, was von konkretem Nutzen für die Menschen in Deutschland war. Es war die Zeit der Verantwortungsethik, die nach meiner Erfahrung weniger kleidsam als mühsam ist. Steht hier irgendwo ein Geßler-Hut mit einem Spruchband von Gesinnungsethik? Den Hut würde ich nicht grüßen. Von ihm ist der Weg zum Fanatismus nicht weit.Für mich ist Schalcks Buch ein ziemlich unverhülltes, im Blick auf die eigene Person offenherziges Erinnerungsbuch; manches würde ich gern noch genauer wissen. Möge doch der "verdorbene Greis" ein zweites Buch schreiben. Mich hat angerührt die Beschreibung seiner Nachkriegsideale - der östlichen Variante der guten Vorsätze unserer Generation nach 1945 - und das ungenierte Eingeständnis seines heftigen Wunsches, aufzusteigen, Karriere zu machen durch Anpassung ans Gegebene.Wird dieses Verhalten, das Schalck demonstriert, rückblickend weiterhin - oder jedenfalls so lange, wie es die Menschen als Teil der Geschichte von BRD und DDR noch interessiert - von einer westdeutschen Mehrheit als unzulässig im Osten und als pragmatische Leistungsbereitschaft im Westen gekennzeichnet werden? Kann Schalcks Buch die schwierige Erkenntnis fördern, dass die Menschen sich in jedwedem politischen System über ganz lange Strecken vollkommen gleich verhalten? Hier ist, wohlgemerkt, nicht von einem Holocaust-System die Rede, sondern von dem der BRD und der DDR. Letzteres hätte meines aus mehreren Gründen nicht sein können. So habe ich, zum Beispiel, Schwierigkeiten mit vorherrschenden Meinungen.Dass Honeckers System mehr und mehr feudale Züge annahm, freilich nicht auf Weltniveau, um im Jargon der DDR zu sprechen, belegt Schalck am Wandlitzer Beispiel. Das ist nicht neu. Unkontrollierte Macht, zu lange ausgeübt, entartet.Fasziniert hat mich Schalcks Beschreibung seines kapitalistischen Arbeitsfeldes KoKo inmitten der Planwirtschaft. Ich kann nicht erkennen, dass sich Schalck dieser Arbeit zu schämen hätte. Ich gehe davon aus, dass die Staatsanwaltschaft ein prüfendes Auge darauf geworfen hat, ob und gegen wen die Beschaffung von Antiquitäten aus Privatbesitz, die von Schlacks Apparat verkauft worden sind, geahndet werden muss. Waffenhandel? Schmiergelder scheinen nicht geflossen zu sein. Embargo-Verletzungen? Na, immerzu. Schalcks Land befand sich in einem Kalten Krieg, der naturgemäß von zwei Seiten geführt wurde.Die Einbindung des KoKo-Chefs in die Staatssicherheit? Was ist daran erstaunlich? Wiederum kein unpassender Vergleich, sondern ein passender Hinweis: Wenn eine US-amerikanische Firma im Kalten Krieg mitten im Feindesland hätte tätig sein wollen - die CIA hätte sich nicht herausgehalten.Aber in Deutschland haben wir uns nach der Wende aus verschiedenen Motiven mehrheitlich dafür entschieden, den Staat DDR singulär in seinen dunklen Seiten anzusehen. Die staatlichen Innereien, die der Zusammenbruch der DDR bloßlegt, veranlassen uns nicht schlechthin zu erhöhtem Misstrauen gegen jedes staatliche Menschenwerk und dessen moderne Machtmittel. Es gibt derzeit zu wenig Dissidenten in diesem Land, die im wohlverstandenen Interesse des Systems vor moralischer Selbstzufriedenheit im Blick auf unser Staatswesen warnen.
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