Als sich die EU 2004 erweiterte, schrieen viele Alarm: Scharen polnischer Klempner und lettischer Prostituierter, tschechischer Autodiebe und ungarischer Bandenkrimineller scharrten angeblich am Schlagbaum mit den Füßen, um in den Goldenen Westen zu reisen. Fragt man die Menschen in den Beitrittsländern heute, winken viele ab: Den Westen haben sie abgeschrieben, der Osten ist interessanter.
Noch sind die Zahlen einigermaßen eindeutig: Der Osten verliert an Bevölkerung - zwar nimmt die Lebenserwartung zu, doch gehen die Geburten zurück und die Jungen wandern aus. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks und der früheren Sowjetunion könnte sich bis 2050 die Relation von Rentnern zu Erwerbstätigen nach jüngsten Schätzungen der Vereint
ungen der Vereinten Nationen gravierend verändern, in Polen und Ungarn etwa von heute 25 Rentnern pro 100 Erwerbstätigen auf ein Verhältnis von 70 zu 100. Die US-Entwicklungshilfeagentur USAID bescheinigt den Transformationsländern Mittelosteuropas seit dem Zerfall des Ostblocks 1990/91 allerdings nur einen Bevölkerungsrückgang um 0,1 Prozent - in der gleichen Zeit wuchs die Bevölkerung Westeuropas um 0,7 Prozent. Allerdings messen die Statistiken den Trend nur bis zirka 2002; so langsam sind Volkszähler.50 Prozent der PolenZugleich erfuhren Meinungsforscher der UNO, zwischen zehn und 30 Prozent der Osteuropäer seien grundsätzlich bereit, nach Westen zu wandern. Nur wenige freilich - so die Erhebung - würden allerdings den Worten Taten folgen lassen; selbst wenn völlige Freizügigkeit herrsche, also alle EU-Bürger überall leben und arbeiten dürften, werde letzten Endes höchstens ein Prozent der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung Mittel- und Osteuropas den Exodus wagen. Diese Freizügigkeit jedoch gibt es bis heute nicht, gerade wegen der Angst im Westen vor einer Massenmigration - folglich hält sich die Wanderung in Grenzen. Zumal die Wirtschaft in vielen Beitrittsländern wächst, und die Arbeitslosigkeit schrumpft.Einer Anfang 2006 zum "Europäischen Jahr der Mobilität" veröffentlichten Studie der EU-Kommission zufolge sahen zwar die Menschen in allen (damals) 25 Mitgliedsstaaten der EU die Mobilität mehrheitlich positiv. Ausgerechnet in den mittelosteuropäischen Staaten jedoch fiel das Votum eher skeptisch aus: Mit Ausnahme der Slowaken waren dort weniger als die Hälfte der Menschen überzeugt, dass Mobilität grundsätzlich gut sei; in Polen, Litauen und Estland nur knapp 40 Prozent. Entgegen dieses signifikanten Votums war die persönliche Bereitschaft, vorübergehend Arbeit in einem anderen EU-Staat aufzunehmen, in einigen Ländern dennoch hoch: So konnten sich mehr als 50 Prozent der Polen, gefolgt von Litauern, Letten und Slowenen, vorstellen, auf Arbeitssuche die angestammte Heimat zu verlassen. Slowaken und Esten lagen - ähnlich wie die Deutschen - mit rund 35 Prozent eher im EU-Durchschnitt, Tschechen und Ungarn mit knapp 30 Prozent darunter.Kulturlos und psychopathischEva Feldmann-Wojtachnia aus der Forschungsgruppe Jugend und Europa am Zentrum für angewandte Politikforschung der Universität München zieht aus der Studie den Schluss, Mobilität als Migration und permanenter Ortswechsel würden "mit individuellen und sozialen Deklassierungsprozessen" assoziiert und daher negativ besetzt. Dagegen käme Mobilität als temporärer Wechsel in ein anderes Land, quasi als "Ausweichlösung", für viele in Betracht, vorzugsweise für junge, gut ausgebildete Menschen, wie nicht zuletzt Zahlen des britischen Innenministers belegen. Großbritannien gilt als bevorzugtes Ziel vieler Arbeitsmigranten, immerhin bewarben sich zwischen Mai 2004 und Juni 2006 427.000 Arbeitnehmer aus Ländern Mittelosteuropas erfolgreich um Jobs auf der Insel - 62 Prozent davon aus Polen, mehr als 80 Prozent waren jünger als 34 und verfügten laut USAID über gute bis sehr gute Studienabschlüsse.Doch fragt man mittelosteuropäische Migranten und solche, die es werden könnten, im Detail nach ihren Motiven und Plänen, dann entsteht ein anderer Eindruck: Die meisten wollen sich - beispielsweise als Übersetzer in Brüssel oder Schwarzarbeiter in Frankfurt/Main - nur vorübergehend im Westen aufhalten, sehen ihn mit zynisch-verächtlichem Blick und halten Distanz. Auf Dauer in Frankreich oder Deutschland leben? Nie! Eine Mehrheit empfindet diesen Teil Europas als hektisch, unfreundlich, kulturlos und psychopathisch oder verweist auf die oft lieblosen Beziehungen in den Familien.17 Jahre nach der Wende strömen die Mittelosteuropäer längst nicht mehr mit ihren blau-weißen Riesenplastiktaschen aus den Reisebussen - sie kommen vielmehr mit leichtem Gepäck und tanken immer wieder per Billigflug Heimat auf. Selbst ihren Urlaub verbringen sie wieder lieber am Schwarzen Meer, in der Hohen Tatra oder am Balaton als auf Mallorca. Eine Kunsthistorikerin in Litauen, die zum Kulturattachée in der Ukraine berufen wurde, meint dazu: "Ich hätte auch nach Berlin oder Madrid gehen können. doch was soll ich da? Da interessiert sich niemand für die Kultur meines Landes, von dem viele nicht einmal wissen, wo es liegt." In Tiflis und Baku habe sie Ausstellungen organisiert, kulturelle Hingabe und Gastfreundschaft erfahren. Und ein anderer Diplomat aus dem Baltikum deutet an: "Nach Berlin will keiner, begehrt sind die Nachbarländer, auch Warschau und Minsk, weil von dort der Weg nach Hause kurz ist. Aber auch Kiew, Tiflis oder Moskau kommen in Frage, weil es in diesen Metropolen noch etwas aufzubauen gibt."So wird das Osteuropa der EU zur Einwanderungsregion, wie das einst für Westeuropa in den frühen neunziger Jahren galt: Akademiker aus den postsowjetischen Republiken arbeiten in Ungarn, Polen oder Tschechien. Und während polnische Frauen in Deutschland das marode System der Altenpflege am Leben erhalten, putzen Ukrainerinnen in Warschau. Laut der EU-Statistikbehörde Eurostat stellen Ukrainer in Tschechien die größte Ausländergruppe (29 Prozent), in Ungarn sind es die gerade erst EU-Bürger gewordenen Rumänen (43 Prozent). Russland zieht trotz Fremdenfeindlichkeit Einwanderer aus Zentralasien und dem Kaukasus an. Um die demografische Krise zu lindern, schlug der nationalistisch gefärbte Liberaldemokrat Wladimir Schirinowski immerhin ein Ausreiseverbot für Russinnen vor, die weniger als zwei Kinder zur Welt gebracht haben.