Zu den einschlägigen Passagen in diesem Lebensroman des Leonardo da Vinci gehört die Erinnerung an seine Mutter. Caterina war die Tochter einfacher Bauern aus Vinci, wo sie als Magd in der Schänke diente und auch dem Notar Ser Piero begegnete. Als uneheliches Kind dieser ganz und gar nicht standesgemäßen Liebe wuchs Leonardo bei den vornehmeren Großeltern auf, doch wie Dmitri Mereschkowski erzählt, lief der Junge immer wieder zu seiner Mutter, „zu der er sich nachts ins Bett schlich, um sich mit seinem Körper an sie zu schmiegen“. Findet sich nicht auch im Bild der Mona Lisa ein Widerhall von Caterinas sanftem Lächeln? Sigmund Freud bewegte diese Kindheitserinnerung so sehr, dass er darauf seine Schrift über die kindliche Sexual
ualität gründete, in der er Wissbegierde und Forschertrieb mit kindlichen Sexualerkundungen erklärte. Von der Mutter „zu sexueller Frühreife emporgeküsst“, schrieb Freud, habe sich bei Leonardo die infantile Sexualfantasie zu einem Forschertrieb sublimiert, wobei Schau- und Wissbegierde leider einhergegangen seien mit einer Verkümmerung des Sexuallebens. Tatsächlich hat der reale Leonardo stets mit jungen Schülern zusammengelebt, doch nachdem er sich mit seiner Beziehung zu seinem Lehrer Andrea del Verrocchio Ärger eingehandelt hatte, hielt er sich bedeckt.Freud wusste, dass er sich bei Mereschkowski auf eine Fiktion stützte, sah jedoch geflissentlich darüber hinweg. Er war nicht der Einzige. Über Jahrzehnte prägte der russische Schriftsteller mit seiner bombastischen Romanbiografie das Bild des Künstlers und Ingenieurs Leonardo da Vinci. Von all den Neuerscheinungen zu Leonardos 500. Todestag gehört dieser vom Unionsverlag wieder aufgelegte Klassiker aus dem Jahr 1900 wohl zu den sinnlichsten, prächtigsten, aber auch unzuverlässigsten. Auf 700 Seiten entfaltet Mereschkowski das überwältigende Panorama einer Epoche, in der Glaube und Vernunft, Alchemie und Wissenschaft, weltliche Herrschaft und Kirche um die Vormacht in Europa streiten. Und während an den Fürstenhöfen bacchantische Orgien und in den Gossen ketzerische Hexensabbate gefeiert werden, sucht der Künstler den Weg, um Kunst und Wissenschaft, Liebe und Erkenntnis zu vereinen.Oh großer Meister!Mereschkowski lässt seinen Roman im Jahr 1494 beginnen, auf Italiens Märkten werden nicht nur Pomeranzen und Artischocken verkauft, sondern auch gefälschte Tragödien des Euripides und die Gebeine des Demosthenes. Zahnzieher bieten ihre Dienste an, Alchimisten den Stein der Weisen, Quacksalber ihre Arzneien aus Wolfsmilch, Fischgalle und Kuhmist. In Florenz wettert der Bußprediger Savonarola gegen den Lebenswandel von Klerus und Adel, gegen die Borgia und Medici, gegen Teufelinnen, Gottesleugner und die falschen Götter der Antike.In Mailand hält sich Ludovico il Moro aus der thronräuberischen Dynastie der Sforza mit einer Mischung aus Herrlichkeit, Klugheit und Verbrechen an der Macht. Leonardo steht in seinen Diensten und auf der Höhe seines Schaffens. Gerade hat er sein berühmtestes Wandgemälde begonnen, das Abendmahl im Kloster von Santa Maria delle Grazie. Wir lernen das Genie aus der Sicht seines Schülers Giovanni Beltraffio kennen, der ehrfürchtig verfolgt, wie Leonardo die Schönheit antiker Statuen vermisst, die Gesetze von Anatomie, Perspektive und Licht erkundet und die Menschheit mit seinen Erfindungen voranzubringen hofft: mit Flugapparaten und Kanonen, Flaschenzügen und selbstdrehenden Bratspießen. Beltraffio lernt, wie die Seele den Körper gestaltet und wie Schatten gemalt werden: „Die größte Freude für den Körper ist das Sonnenlicht, die größte Freude für den Geist ist die Klarheit mathematischer Wahrheit.“Das Goldene Zeitalter wird am Mailänder Hof mit einem grausam-spektakulären Triumphzug eingeläutet, und Leonardo beginnt zu ahnen, dass die Herrlichkeit der italienischen Fürstentümer der Menschheit kein Glück bringen wird. Die Franzosen werden die Sforza vertreiben, und für Leonardo beginnen die Jahre des Umherirrens. Er wird für die Borgia und die Medici in Rom arbeiten, für die Republik in Florenz und für den französischen König. Er wird Machiavelli begegnen, Michelangelo und Raffael. Sie alle werden Leonardo als Mann großer Schönheit und Weisheit erleben, der voller Güte von Tieren und Bäumen spricht und sich das verheerendste Kriegsgerät ausdenkt, der Menschen zur Hinrichtung begleitet, um in ihren Gesichtern den Ausdruck der Todesangst zu studieren. Für den Wahrheit Schönheit ist und Schönheit Wahrheit. Der Herzögen und Päpsten in moralischer Indifferenz dient. Und dessen Zuneigung einzig seinen Schülern gilt, abgesehen von der stillen und einsichtigen Monna Lisa Gioconda: „Ich höre, dass Ihr nie ein Werk vollendet, weil Ihr nach Unmöglichkeit strebt“, wird sie ihm am Anfang jener vier Jahre lächelnd sagen, in denen sie ihm Modell sitzt.Wie viele historische Romane offenbart auch Leonardo da Vinci mehr über das Denken des Autors, hier des russischen Symbolisten Merschekowski. Bei ihm treffen Gegenwartsflucht und Kunstreligion aufeinander. Der Roman ist Teil der Trilogie Christ und Antichrist, ihn durchziehen die Verachtung für alles Mittelmäßige, die Verehrung historischer Größe und der tiefe Aufklärungspessimismus der russischen Dekadenz, zu deren Wortführern der 1865 geborene Mereschkowski gehörte. Leider lässt uns der sonst so engagierte Unionsverlag, der den Roman in der ehrwürdigen Übersetzung von Erich Boehme ohne Nachwort präsentiert, mit einer Einordnung allein.Bei Mereschkowski muss selbst ein Leonardo da Vinci scheitern: Die neue Zeit wird er nicht einleiten, weil ihm der Glaube fehlt. Ganz am Ende des Romans, wenn Leonardo seine letzten Lebensjahre im französischen Exil in Amboise verbringt, lässt Mereschkowski drei fromme Ikonenmaler aus Nowgorod ins anmutige Château du Clos kommen, von wo aus sie Leonardos Ingenium ins russische Reich tragen werden. Diese Wendung ins Obskure lässt die nationalreligiösen Verstiegenheiten erahnen, zu denen sich Mereschkowski in seinem späteren Leben wie so viele russische Intellektuelle hat hinreißen lassen.Placeholder infobox-1
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