Wie in den meisten Ländern, die nicht zur westlichen Welt gehören, ist auch in Indien der Export von Literatur an eine Bedingung geknüpft: Die Texte müssen in einer Sprache verfasst sein, die von literarischen Übersetzern beherrscht wird. Für Indien heißt das: Nur wer auf englisch schreibt, hat Chancen, im Ausland gelesen zu werden. Was hierzulande als "indische Literatur" wahrgenommen wird, ist in den allermeisten Fällen eben nicht etwa in Hindi oder Bengali geschrieben - immerhin sprechen 350 Millionen Inder Hindi und 70 Millionen Bengali - sondern in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren. Ebenso wie das berühmteste "Indien"-Buch von einem Briten stammt: Das Dschungelbuch von Rudyard Kipling.
Kipling, 1865 in Indien geboren, in England erzo
, in England erzogen und dann als Journalist jahrelang in Indien unterwegs, veröffentlichte seine ersten Erzählungen 1888. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse bringt Der Audio Verlag eine Auswahl auf CD heraus. Der Bisara von Pooree ist ein kleiner, hölzerner Fisch, der zu Glück in der Liebe nur dann verhilft, wenn der Besitzer unehrlich zu dem Schmuckstück gekommen ist - sonst bringt er nur Unglück. Eine völlig inakzeptable Erklärung für aufgeklärte Briten, und so nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Die Geisterrikscha erzählt von einer abgewiesenen Liebhaberin, die vor Gram über die unglückliche Liebe stirbt und als Geist dem sehnsuchtsvoll Geliebten solange erscheint, bis dieser verwirrt das Reich der Lebenden verlässt. Beide Erzählungen zeigen ein Indien, das sich nicht reibungslos als Kulisse für die Gesellschaftsspiele der Briten eignet. Zu viele unerklärliche, unheimliche und bedrohliche Komponenten stören das aufgeklärte Weltbild.Nur in Ohne kirchlichen Segen kommt es zu einer Begegnung zwischen den fremden Herrschern und dem erschreckenden, aber auch faszinierenden Land: Ein britisch-indisches Kind wird geboren, und zwar einem Regierungsbeamten von seiner 16-jährigen Frau. Obwohl er diese Frau gekauft hat, als sie erst 14 war, und diese Tatsache als Zeichen einer absurden Hierarchie während der ganzen Erzählung nie in Vergessenheit gerät, ist es doch eine Liebesgeschichte voll tiefer Gefühle. Wenn die junge Mutter ihren britischen Geliebten in einem unbedachten Augenblick mit M´sahib anredet oder ewig eifersüchtig ist auf die frechen weißen "Memlock", zu denen er ganz sicher bald zurückkehren wird, dann spricht sie voll Koketterie, spiegelt aber auch die gesellschaftliche Realität wieder. Am Ende überlebt diese Liebe nicht, Mutter und Kind sterben am Fieber, und vom Familienleben im verborgenen Haus abseits des Kolonialbetriebs ist schnell keine Spur übrig. Sehr eindringlich und sehr gelungen geschrieben und von Ulrich Noethen vorgetragen ist diese kurze Erzählung über eine unmögliche Liebe.Knapp 70 Jahre später, 1960, wird in Südindien die Bestsellerautorin Arundhati Roy geboren. Sie hat es mit ihrem sozialen Engagement beinah zu noch mehr Berühmtheit gebracht als mit ihrem Roman Der Gott der kleinen Dinge. Auch sie erzählt eine Liebesgeschichte, die an den gesellschaftlichen Regeln scheitert: Eine junge, alleinerziehende Mutter beginnt eine Affäre mit einem Kastenlosen, und sobald sich eine Gelegenheit ergibt, wird der Mann dafür bestraft.In Roys Roman erscheinen viele Aspekte Indiens - die kommunistische Partei, das Auf und Ab eines Familienbetriebes, Menschen, die wie in ihrem Schicksal gefangen wirken, und Gefühle, die sich nicht an Grenzen halten. Auffällig ist, wie die Autorin kaum vorstellbare Gegensätze in erstaunliche Metaphernkaskaden drängt. Leider ist Barbara Auer dem oft nicht gewachsen - ihr Vortrag erhellt nicht, sondern erschwert den Hörern gerade bei den häufigen Zeitsprüngen die Zusammenhänge. Trotz der unverständigen Sprecherin beziehungsweise Regie überzeugt die bildhafte Sprache Roys, insbesondere wenn sie aus der Perspektive der Kinder Rahel und Estha schreibt. Wie der kleine Estha im Kino so gerne mitsingen möchte und dazu hinaus ins Foyer geschickt wird, wo ihm der Limonadenverkäufer im Tausch für eine Limo seinen Penis zu halten und zu masturbieren zwingt, prägt sich ins Gedächtnis ein.Im gleichen Teil Indiens wie Roy ist 1971 auch Preethi Nair geboren, und auch sie ist nicht nur für ihre Bücher bekannt. Sie hat sich nicht für die Kastenlosen, sondern für ihre Texte engagiert und ihre verschmähten Manuskripte kurzerhand unter einem Pseudonym selbst den Verlagen angedient. Das Ergebnis: sie wurde als PR-Agentin ausgezeichnet und hat die Filmrechte ihres Buches an die BBC verkauft. Koriandergrün und Safranrot schildert ebenfalls unglückliche Liebesverhältnisse. Gleich drei Generationen indischer Frauen fallen auf schöne, reiche und verantwortungslose Männer herein - und werden verlassen. Die erste Frau nimmt ihr Schicksal an, arbeitet, führt ein ehrliches Leben und endet als weise Frau. Die zweite, ihre Tochter Nalini, flieht mit ihrem viel zu reichen Liebhaber, bekommt zwei Kinder, folgt ihm nach London - und wird sitzen gelassen. Und obwohl auch sie sich fängt, eine hauseigene Pickles-Produktion betreibt und einen guten, ehrlichen Mann findet, ist das Familienglück beschädigt. Nalini hat nämlich ihren Kindern eine Lüge erzählt, die ihre Tochter scheinbar für immer von ihr entfernt... Doch am Ende siegt die Wahrheit, und es gelingt der jüngsten Frau im Bunde, die Tradition der Ehen mit schönen, reichen aber unverantwortungsvollen Männern zu durchbrechen.Nairs Roman hat an mehr als einer Stelle märchenhafte Züge, die Handlung ist oft vorhersehbar und die Figuren sind eher Typen als vielschichtige Charaktere. Indien ist für die ältere Generation der Exilinder das Land der Sehnsucht, die Jungen schämen sich eher für ihre andersartigen Ursprünge. Was die Weisheit der Großmutter betrifft - das Verzeihen ein Wert ist, der Entwicklung ermöglicht, steht auch in der Bibel.Rudyard Kipling: Indische Erzählungen. Mit Ulrich Noethen, Der Audio Verlag 2006, 2 CDs, 144 Minuten, 19,99 EURArundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge. Gekürzte Lesung mit Barbara Auer; Brigitte Hörbuch-Edition 2006, 3 CDs, 232 Minuten, 9,95 EURPreethi Nair: Koriandergrün und Safranrot. Autorisierte Hörfassung mit Andrea Hörnke-Trieß, steinbach sprechende bücher 2006, 6 CDs, 437 Minuten, 29,99 EUR
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