Eine kleine Geschichte aus der UdSSR: "Ich studierte damals in einer Ingenieurschule für Architektur. Vor den Prüfungen hatte sich Lehrstoff angestaut und so lernten wir die ganze Nacht. Am Morgen wollten wir nach Hause, aber das schmiedeeiserne Tor war verschlossen, und man musste herüberklettern. Wir waren zwei Männer und stießen die zwei Frauen nach oben. Später sagte mein Freund zu mir: Wolodja! Hast du gesehen? Unsere Mädchen hatten die gleichen Schlüpfer an."
1925 kommt ein russischer Genosse nach Paris und auch ihm springt Unterwäsche ins Auge. Der Reisende heißt Alexander Rodtschenko und seine Aufgaben als Kunstvertreter lassen ihm viel Zeit für die Inspektion der westlichen Warenwelt. Im Gegensatz zu Lubitschs Ninot
schs Ninotschka, deren Abwehr gegen schimmernde Unterwäsche, fein moussierenden Champagner und bürgerliche Liebesromantik nicht lange vorhält, wird Rodtschenkos Staunen schnell von tiefen Einsichten verdrängt: Im Kapitalismus ist alles käuflich. Der Konsum ist die beherrschende Kommunikationsform. Die Waren sind attraktiv, aber auch billig, und sie verhalten sich wie Prostituierte. "Es ist immer möglich, irgendetwas zu kaufen". Daraus folgert er: So darf der sozialistische Gegenstand nicht sein. Er soll nicht verführen und Erlesenheit vorspielen, er soll nützlich, bescheiden und ehrlich sein. Die Dinge sollen den Menschen gleichgestellt sein, man muss sie sozusagen in ihren Gebrauchswert befreien. Trotzdem kauft auch Rodtschenko Strümpfe und elastische Miederbänder für seine Frau und einen Satz von Stehkragen für sich selbst.Geschichten und Widersprüche wie diese werden in der Ausstellung Körpergedächtnis im Wiener Volkskundemuseum genüsslich in Erinnerung gerufen. Auf der Basis einer Textilsammlung, die aus etwa 200 Teilen besteht und die Zeit zwischen 1917 und 1991 abdeckt, stellen die Kuratorinnen Ekaterina Degot und Julia Demidenko eine Rückschau auf eine UdSSR zusammen, die einen denkbar engen Fokus hat: Unterwäsche. Diese Beschränkung ist insofern klug, als hier wie sonst kaum das Intime vom Kollektiven, der Körper von der Wirtschaft und Nützlichkeit von den Wünschen durchkreuzt wird. Mit lakonischem Humor und einem Gespür für ethnografische, textilgeschichtliche und sozialpsychologische Pointen wird aber nicht die "schmutzige Wäsche" des Sozialismus gewaschen, sondern liebevoll ein Abschied zelebriert, mit Oral History-Belegen, Privatfotos und offiziellen Bildern reich gespickt.Mit der Oktoberrevolution wurden auch neue Bekleidungsrichtlinien verbindlich. Die Ideale von Kommune und Brüderlichkeit sollten sich in minimalistischen Einheitsformen zeigen. Für die Unterwäsche bedeutete das zunächst eine Beschränkung auf die Schnitte und Materialien der vorrevolutionären Unterschicht. Durch die Privilegierung des Sports kamen aber auch neue Formen auf. In den zwanziger Jahren wurden zunehmend Trikotagen gebräuchlich, durch Überschneidungen von Unterwäsche und Sportkleidung schienen sich die Grenzen zwischen Intim-, Privat- und öffentlicher Sphäre zu verschieben.Gehörte das Sporttrikot vollkommen zur allseits sichtbaren Welt, wurde es in seiner Funktion als Unterwäsche grundsätzlich versteckt. Auch in öffentlichen Bildern der UdSSR kommt Unterwäsche daher praktisch nicht vor. Die Ent-Erotisierung der Körper und der Unterwäsche war Teil des Projekts, die Dinge in ihrem reinen Gebrauchswert aufgehen zu lassen. Demzufolge war unisex die sowohl ökonomisch wie kulturpolitisch erwünschte Maßnahme. 1940 gab es nur einen einzigen Büstenhalter im offiziellen Sortiment und eine Amerikanerin machte die folgende Moskau-Beobachtung: "Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie man in der UdSSR Büstenhalter verkauft - sie liegen zu Bergen gestapelt ... einfach so als Naturprodukt. Die Verkäuferin nimmt sie vom Regal und packt sie in ein grobes Stück Papier ein, wie Brot oder Wurst."Mit der Versachlichung der Unterwäsche entstehen aber auch neue Formen von Intransparenz. Reste von nicht kollektivierbaren Wünschen suchen sich alle möglichen Kanäle. Degot: "Obwohl fast alle die gleiche Unterwäsche trugen, war es doch üblich, sich ihrer zu schämen". Die Scham ist ein Widerstand, ebenso wie der Wunsch nach schönen Dingen oder der Selbstdarstellung als sexuelles Subjekt.Ein Kind hatte eine flauschige Unterhose aus chinesischer Produktion bekommen. Da sie ein paar Nummern zu groß gekauft war, ließ sie sich nur mit Mühe unter die Kleidung stopfen. Das Mädchen zog die Hose daher heimlich wieder aus und ging in diesem Winter lieber mit blaugefrorenen Beinen in die Schule. Auch in Erwachsenen konnte die erzwungene Askese unermessliche Wünsche erzeugen. 1933 stellte der Dichter Daniil Charms eine vor dem Hintergrund stalinistischer Verfolgungen recht utopisch wirkende Wunschliste auf: "12 große Hemden, 6 weiße Hemden mit offenem Kragen, 2 grüne Seidenhemden, 6 Unterhosen, 6 Seidenunterhosen, 12 Nachthemden" bilden die Posten einer "phantastischen Garderobe", die von der sowjetischen Produktionsrealität wie von einer gesellschaftlichen Opportunität gleich weit entfernt war.In der Nachkriegszeit lockert sich der Ton in textiler Hinsicht etwas. Auf einmal gibt es, als Reaktion auf die demografischen Verwerfungen zugunsten der Frauen, Unterwäsche in einer bis dahin unbekannten Vielfalt. Auch kriegsbedingte Auslandskontakte hatten die Augen für modische Extravaganzen geöffnet. Selbst das sozialistische Ausland wurde bald zum Motor sowjetischer Wünsche. Die DDR galt als Konsumparadies, und Strümpfe aus Dederon gehörten zu den begehrtesten Waren.Der Wunsch nach Importprodukten nahm umso manischere Züge an, je mangelhafter die tatsächliche Versorgungslage wurde. Man stand stundenlang an, um doch leer auszugehen. Da blieb dann nur das Selbermachen. Man lieh sich das Burda-Magazin der Freundin aus, um über Nacht die Schnittbögen zu kopieren. Als mit dem Minirock die Nylonstrumpfhose aufkamen, tuscheln russische Frauen sich zu: "Strümpfe mit Unterhose!" - und hatten damit bereits den Weg zum Ersatz gebahnt. An normale Schlüpfer nähten sie lange Strümpfe und hatten so wenigstens ein ideell ähnliches Ergebnis.Körpergedächtnis beschreibt die Sowjetunion in der Zeit zwischen dem Krieg bis zu ihrem Ende vor allem als eine rührige Großmacht im Umändern, Ausbessern und kreativen Konvertieren von Textilien. Eingefärbt und umgenäht werden aus Herrenunterhemden "Jumper" für Frauen, aus Nesselunterwäsche kecke Sommerhosen. Und selbst am anderen Ende werden aus Unterhemden schnell Einkaufsbeutel. In den achtziger Jahren macht sich der Eindruck breit, als müsse die Wäsche der Vorfahren bis in alle Ewigkeit aufgetragen werden. "Den Hauptanteil sowjetischer Gegenstände bildeten umgearbeitete Sachen" (Degot).Obwohl auch unter den Bedingungen des westlichen Kapitalismus löchrige Unterhosen nicht selten beim Schuhputzzeug gelandet sind, lief das hier skizzierte Thema doch auch anders ab. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzt sich eine Proletarisierung der Jugendkultur durch. Das offen getragene Unterhemd ist eine rebellische, antibürgerliche Geste. Durch Filmstars wie Marlon Brando wird das T-Shirt zudem betont erotisiert. Für Frauenwäsche sollte dieses Modell aber erst durch Punk Geltung erlangen. Und dann brauchte es weitere sieben Jahre und eine Madonna, um aus einem aggressiv-unsexuellen Übertritt - der offen getragene BH - ein unterhaltungstaugliches Erotik-Angebot zu machen.Inzwischen scheint es, als hätten diese Rebellionen, Tabubrüche und Erotisierungen den Weg vor allem in eine Richtung bereitet: zur Biologisierung des Menschen. Es ist jedenfalls lange her, dass auf den nackten Körper Ideen von Freiheit glaubwürdig projizierbar waren. Inzwischen scheint der Körper gerade noch als Bild für vielfältige Übergriffe und eine unbegrenzte Verwertbarkeit zu taugen.Körpergedächtnis - Unterwäsche einer sowjetischen Epoche. Volkskundemuseum Wien. Noch bis 3. August.