Ein junges Mädchen aus Berlin, erst 15 Jahre alt, bricht im Oktober 1933 allein und mittellos nach England auf. Sibylle Ortmann ist Halbjüdin, sie sieht für sich keine Zukunft in Deutschland. Sie weiß, dass die jüdischen Mitschülerinnen an ihrem Charlottenburger Realgymnasium nicht mehr das Abitur ablegen dürfen, und sie, die Begabte, will für sich eine Ausbildung. Sie macht sich auch keinerlei Illusionen, was für sie und die jüdische Bevölkerung von den Nazis zu erwarten ist; darüber hat sie sich schon vor deren Machtübernahme in Briefen aus den Ferien mit ihrer Mutter ausgetauscht. Es ist der Beginn einer Korrespondenz, die sich über viele Jahre, bis 1946, erstrecken wird.
Sibylles Mutter Eva ist Sängerin, Tochter
, Tochter des Tolstoi-Übersetzers und Schillertheater-Gründers Raphael Löwenfeld. Von Wolfgang Ortmann, Sibylles Vater, trennte sie sich, als Sibylle drei Jahre alt war; er wird im Leben der beiden kaum noch eine Rolle spielen. Dieser Umstand mag die Innigkeit erklären, die das Verhältnis von Mutter und Tochter prägt, vielleicht auch die Selbstständigkeit des Einzelkindes Sibylle, ihren wachen Geist und ihr frühreifes Erfassen der politischen Ereignisse, in denen sie aufwächst.In den Briefen, Postkarten und Telegrammen, die Sibylle und Eva Ortmann fortan fast täglich tauschen, entfaltet sich, anders kann man es nicht nennen, das hautnah erlebte Zeitgeschehen deutscher Juden zwischen 1933 und 1945, der Emigranten wie der Daheimgebliebenen. Sibylle berichtet aus London, von Menschen, die ihr helfen, und solchen, die ihr Steine in den Weg legen. Mutter Eva schildert, zunehmend vorsichtig und zurückhaltend, die täglich neuen Einschränkungen ihres Alltags in Berlin. Was die Briefeschreiberinnen vereint, ist der klare, nie larmoyante Blick auf die Verhältnisse ihres jeweiligen Umfelds, und die Verhältnisse bedeuten für sie in erster Linie Kampf: Kampf mit den Behörden um die Anerkennung eines rechtlichen Status der eigenen Person, ein Existenzkampf, der bald zu einem Überlebenskampf und, nach erfolgter Flucht, ein Kampf um die Rettung anderer werden soll. Von Anfang an steht im Vordergrund die Beschaffung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen, von "Affidavits", Visa und vor allem Geld, um Freunde und Verwandte aus Deutschland und später aus den besetzen Gebieten herauszuholen. Ein Wunder, dass da noch Zeit und Energie für das eigene Leben vorhanden ist. Aber Sibylle bemüht sich in London gegen tausenderlei Hindernisse erfolgreich um Arbeit, Freunde und politisches Engagement.Mutter Eva in Berlin darf außerhalb des Jüdischen Kulturbunds ihren Beruf nicht mehr ausüben. Auch für sie besteht von Beginn an kein Zweifel, dass sie Deutschland verlassen muss. Es gelingt ihr schließlich, mit ihrem Lebensfährten, dem Opernsänger Fritz Lechner, in die USA zu emigrieren, wohin sie die 19jährige Sibylle im Oktober 1937 aus London nachholen kann.Doch auch dort gesellt sich zu den Schwierigkeiten der eigenen Existenzsicherung die wachsende Sorge um die in Europa zurückgelassenen Verwandten und Freunde. Sibylle arbeitet tagsüber und studiert bei Nacht, schließlich schließt sie im Radcliffe-College als einzige Studentin des Jahres 1942 mit summa cum laude ab. Inzwischen hat sie den Literaturwissenschaftler Milton Crane geheiratet. Welch ein Glücksfall, dass Mutter und Tochter sich auch noch schreiben, als sie in Amerika nur ein paar Stunden voneinander entfernt wohnen.Ein Glücksfall auch, dass Peter Crane, Sibylles Sohn, die umfangreiche Korrespondenz nach dem Tode seiner Großmutter Eva im Jahr 1988 im Schrank ihrer New Yorker Wohnung aufgefunden hat. Es ist sein Verdienst, die Briefe mit dem Verständnis und der Sorgfalt eines Historikers zur Veröffentlichung ausgewählt und dort, wo es nötig war, mit exzellenten Erläuterungen des (tages-) politischen Geschehens und biographischen Hinweisen versehen zu haben. Die anschaulichen Schilderungen Evas und Sibylles machen jene Mechanismen deutlich, die Schritt für Schritt in die Vernichtung der europäischen Juden führten. Darin ist dieser Briefwechsel mit den Tagebüchern Victor Klemperers vergleichbar. Es bleibt erstaunlich, mit welchem Scharfblick und wie früh diese beiden Frauen die wachsende Bedrohung erkannten. Gerade das macht das Buch zu einer lehrreichen Lektüre, besonders auch für junge Menschen: Jeder in Deutschland hätte wahrnehmen können und müssen, wohin die Entwicklung steuerte. Dieses Buch ist der Beweis.Peter Crane: Wir leben nun mal auf einem Vulkan. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rolf Bulang. Mit einem Vorwort von Walter Laqueur. Bonn, Weidle, 2005, 703 S., 35 EUR