„Ich kann euch in meinem Zimmer spüren. Warum wurde ich euch zugewiesen? Ich weiß, dass ihr mich besser kennt, als ich mich selbst kenne“: Holly Herndon steht aufrecht, schaut in die Kamera. Ihr Lied Home singt sie für die unsichtbare Person, von der sie in ihrem Videoclip gefilmt und im realen Leben ausspioniert wird. Es geht um eines der Lieblingsthemen der jungen US-amerikanischen Künstlerin sowie der Designerstudios Metahaven, die den Clip produziert haben: die Überwachung.
Von ihrem Spion wird Holly Herndon durch Piktogramme getrennt. Sie fallen in dichter Zahl von dem oberen Rand des Videos herunter und bilden eine Art farbige Regenwand. Es sind Piktogramme aus den NSA-Dokumenten, die Edward Snowden im Sommer 2013 an die Öffentlichkeit gebrach
entlichkeit gebracht hat. Selbstverständlich habe ich diese Piktogramme sofort erkannt, als ich das Video zum ersten Mal gesehen habe. Sie waren doch überall in der Zeitung, im Fernsehen und im Netz zu sehen, wer konnte das verpasst haben?Das Video gefiel mir so gut, dass ich es Bekannten und Freunden aus ganz unterschiedlichen Kreisen zeigte. Es gefiel auch ihnen, aber zu meiner Überraschung wurde ich oft nach dem Sinn und der Herkunft dieser komischen kleinen Zeichnungen befragt. Von Edward Snowden hatten meine Bekannten natürlich gehört: Hat irgendetwas mit dem Geheimdienst der Vereinigten Staaten zu tun, von dem wir alle überwacht werden können. Aber irgendwie war es ihnen auch ein wenig egal, eine zu komplizierte Geschichte, „als normaler Mensch hat man doch nichts zu verbergen“ – man kennt die Argumente. Indem ich ihnen das Video zeigte, wollte ich einfach meine Begeisterung teilen, mir stand überhaupt nicht im Sinn, dass Home dazu anregen könnte, über Überwachung nachzudenken. Dafür reichte die Berichterstattung über Snowden in meinen Augen damals doch schon.Ich beschäftige mich intensiv mit Privatsphäre- und Überwachungsthemen, aber ich fürchte, Menschen wie ich vergessen manchmal, dass unsere Themen nicht für jedermann höchste Priorität haben. Wir vergessen, dass nicht jeder sofort im Netz recherchiert, wenn auf Twitter die Veröffentlichung neue Snowden-Dokumente angekündigt wird. Und wir vergessen, dass selbst für die, die dann ein bisschen recherchieren, diese Dinge nur flüchtige, rasch wieder vergessene Nachrichten sind.Es hat nun mal nicht jeder Zeit und Lust, sich intensiv mit Überwachung zu beschäftigen. Dass mehr und mehr Dokumente veröffentlicht und analysiert werden, dass mehr und mehr Überwachungsprogramme der NSA enthüllt werden, wird daran nur wenig ändern. Wer sich in den vergangenen (fast) zwei Jahren nicht empörte, wird nun nicht plötzlich auf die Veröffentlichung von Informationen zu einem zusätzlichen Überwachungsprogramm der NSA mit einer tiefen Verhaltensänderung reagieren. Er wird vielleicht noch nicht einmal durch den aktuellen Skandal um den BND wachgerüttelt (siehe Seite 1).Aus dem LaptopDas heißt natürlich nicht, dass wir die Berichterstattung nicht brauchen, ganz im Gegenteil, die Zeitungen müssen weiter- schreiben, auch wenn die nachhaltige Information eher die treue Leserschaft aufklärt, als dass sie neue Leser begeistert. Die relativ lauen Reaktionen auf die Enthüllungen der letzten Jahre sind auch nicht einfach der Beweis eines generellen Desinteresses. Sie zeigen aber, dass man mit Zeitungstexten nicht jeden erreichen kann.Wir brauchen mehr als Artikel, mehr auch als den Austausch innerhalb einer Szene von Nerds und Aktivisten, die – wie ich – in Hackerspaces arbeiten und kommunizieren. Denn es geht um Massenüberwachung, nicht nur um das Speichern der Daten einer Handvoll besonders gefährdeter, in digitalen Dingen besonders exponierter Menschen. Es geht um das Recht auf Privatsphäre und um den Schutz unserer Demokratie. Es geht um ein Thema der Allgemeinheit.Und hier nun kommen Künstler und Künstlerinnen wie Holly Herndon ins Spiel. Sie sind deswegen so wichtig, weil sie es ermöglichen, mehr und auch jüngere Menschen zu erreichen. Herndon, die 35-jährige Queen of Tech-Topia, wie sie vom Guardian gerade genannt wurde, gehört mit ihrem Clip Home zu den wenigen Künstlern, die es geschafft haben, die Dringlichkeit von Themen wie Privatsphäre und Überwachung in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Mit ihrer Kunst spricht Holly Herndon nicht primär die Leserschaft der Artikel über Edward Snowden und die NSA an, sondern ein junges Publikum, das sich für elektronische Musik interessiert.Ein Publikum, das in der digitalen Welt zu Hause ist, wie Herndon selbst, die nicht nur sagt, dass der Laptop ihr wichtigstes Instrument ist, sondern auch, dass sich der NSA-Skandal für sie schlimmer anfühlte, als wenn jemand bei ihr eingebrochen wäre. Was hätte er dort schon gefunden außer Socken, jedenfalls nichts richtig Persönliches. Durch die NSA aber wurde ihr wahres Zuhause, ihr wahres home attackiert. Und doch ist ihr Song komplizierter: Ihren Enthusiasmus für die Technologie will sie sich durch die Geheimdienste gerade nicht nehmen lassen. Und sie trifft damit auf das Lebensgefühl einer ganzen Generation.Natürlich ist Holly Herndon, soeben erschien ihr neues Album Platform, nicht die einzige Künstlerin, die sich mit diesen Themen beschäftigt. Mit Citizenfour gewann die Regisseurin Laura Poitras den Oscar für den besten Dokumentarfilm. Künstler wie Trevor Paglen oder Angela Richter beschäftigen sich seit Jahren mit Überwachungsthemen. Die Romane Little Brother und Homeland von Cory Doctorow sollte jeder gelesen haben, der die Überwachungsproblematik verstehen will. Im Staatstheater Karlsruhe wurde 2014 Ich bereue nichts, ein Theaterstück über Edward Snowden, produziert. Der deutsche Rapper MoTrip brachte mit Guten Morgen NSA das Thema in die deutsche Hip-Hop-Szene. Im Netz bilden Youtube-Videos wie Big Brother is WWWatching you von Juice Rap News unterhaltsame Alternativen zu den etablierten Medien.Alles außer elitärDas reicht aber nicht. Wir sprechen immer noch von Ausnahmen, großartigen Ausnahmen zum Teil. Aber eine Massenüberwachung verlangt eine Massenbewegung. Was wir brauchen, ist ein gemeinsamer Aufschrei: Transparenz für den Staat, Privatsphäre für uns alle. Und eine Welle von engagierter Kunst, die sich mit einer der wichtigsten Thematiken am Anfang des 21. Jahrhunderts beschäftigt. Eine Kunst, die alles sein darf außer elitär, Überwachungsthemen müssen zum krassen kulturellen Mainstream werden. Meint: Künstler, Schriftsteller, Musiker, Theaterschaffende, Filmemacher, Kreative aller Art – ihr werdet gebraucht! Ihr habt die Mittel, komplizierten Themen auf eine neue Art und Weise darzustellen. Ihr habt die Macht, aus dem komplizierten Thema Überwachung ein Thema für alle zu machen.Ich weiß, dass diese Tatsache vielen Künstlern bewusst ist. Ich habe unzählige Gespräche mit enthusiastischen Menschen geführt, die sich in allen möglichen Kunstbereichen, allen möglichen Szenen bewegen. Viele hatten Ideen für Werke über Überwachung: ein Theaterstück, das die Kosten der Überwachung auch für Menschen zeigt, die nichts zu verbergen haben oder nichts zu verbergen zu haben glauben; ein Lied über den Umgang von Aktivisten mit Smartphones; eine Elektroparty, bei der man das Verschlüsseln lernen kann. Eine Bilderserie, eine Installation, eine Performance ...Seit Edward Snowdens Enthüllungen sind fast zwei Jahre vergangen. Und wie wenig ist seitdem passiert. Es ist schon ein wenig peinlich.
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