„Im März hat die Regierung einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingesetzt und das zeigt: der rassistische Terroranschlag in Hanau war eine Zäsur.“ So lautete sinngemäß die Antwort des Bundes-Opferschutzbeauftragten Edgar Franke Mitte Juli in der Anlaufstelle der Initiative 19. Februar in Hanau, als er von Angehörigen der Opfer nach konkreten Konsequenzen des rassistischen Terroranschlags gefragt wurde. War oder ist Hanau wirklich eine Zäsur? Ein markanter Einschnitt mit konkreten Richtungsänderungen? Für die Stadt Hanau dürfte das erinnerungspolitisch zutreffen, sozialpolitisch schon nicht mehr. Neue Wohnungen für die Angehörigen zu finden, erweist sich bereits als langwieriges P
s Problem. Fehlanzeige, wenn es um die Personalaufstockung in der Begleitung und Betreuung von insgesamt sicher mehr als 100 traumatisierten Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern in Hanau geht.Und über Hanau hinaus? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Trauerfeier eine beachtliche Rede gehalten, in der er es sogar schaffte, den strukturellen Alltagsrassismus zu benennen. Zweifellos eine positive Verschiebung im Diskurs. Aber was mehr? Im zweiten Teil seiner Rede hätte er sich für seine Zeit als Kanzleramtsminister und Geheimdienstkoordinator für die NSU-Unterstützung durch den Verfassungsschutz entschuldigen und endlich auf Taten drängen müssen: Sofortige Offenlegung aller NSU-Akten, konsequente Entwaffnung von Rassisten, Entnazifizierung bei Polizei und Behörden. Und natürlich die lückenlose Aufklärung der Morde vom 19. Februar. Doch nichts davon ist geschehen. Stattdessen scheinen wir weiter denn je davon entfernt, wenn wir uns die letzten Monate und Wochen in Hessen ansehen.Zunächst Hanau: Angehörige und UnterstützerInnen sind einmal mehr mit einer Kette behördlichen Versagens konfrontiert. Wie konnte die zuständige Waffenbehörde des Main-Kinzig-Kreises dem Täter noch im August 2019 einen auf Europa erweiterten Waffenschein ausstellen? Wie konnte die Hanauer Polizei bewaffnete Bedrohungen gegenüber Jugendlichen in 2017 und 2018 im Stadtteil Hanau-Kesselstadt unaufgeklärt lassen? Haben MAD und Verfassungsschutz wirklich nichts vom „Gefechtstraining“ des Täters im Sommer 2019 in der Slowakei mitbekommen? Haben die Staatsanwaltschaften die 24-seitigen Anzeigen des Täters von November 2019 tatsächlich einfach nur abgeheftet? Und kann es sein, dass ein Traktat mit unfassbaren rassistischen Vernichtungsphantasien auf der offiziellen Webseite des Täters zwei Wochen lang vor der Tat unentdeckt blieb?Eine Zäsur sieht anders ausNicht nur, dass es zu all diesen und vielen weiteren offenen Fragen bislang keine Antworten der Behörden gibt. Die Angehörigen, AnwältInnen und UnterstützerInnen mussten die Fragen selbst recherchieren und durch öffentlichen Druck zum Thema machen. In beeindruckender Weise haben die Opferfamilien und Überlebenden mittlerweile das Versagen vor, während und nach der Tatnacht in den Medien zur Sprache gebracht – und damit die Politik und die Behörden immer wieder gezwungen, Stellung zu beziehen und in einzelnen Fragen nach zu ermitteln. Doch die Befürchtung bleibt: Weil der Täter tot ist, wird es kein Gerichtsverfahren geben und die Akte in wenigen Monaten geschlossen. In der Zwischenzeit wird allenfalls das an Informationen veröffentlicht, was nicht mehr verschwiegen werden kann.Eine Zäsur sieht anders aus. Doch die Lage kann schwerlich verwundern. Die hessischen Behörden unterstehen einem Ministerpräsidenten Bouffier, der als früherer Innenminister maßgeblich die Aufklärung des NSU-Mordes in Kassel 2006 und damit des gesamten NSU-Komplexes hintertrieben hat. Und der heutige Innenminister Beuth demonstriert aktuell sein reichlich eingeschränktes Interesse, die offensichtlichen Verbindungen oder sogar Beteiligungen der hessischen Polizei am NSU 2.0 aufzudecken. Nach dem Mord an Walter Lübcke in Kassel im Juni 2019 sowie dem Mordversuch an einem eritreischen Mann in Wächtersbach im Juli 2019 folgten im Februar 2020 die neun rassistischen Morde in Hanau.Der Bruder eines Opfers von Hanau hatte unlängst sehr treffend formuliert: „Als die Politiker wegen Halle im Oktober 2019 nach außen hin einmal mehr versprachen, alles Erdenkliche zu tun, um solche Taten zu verhindern, war das Hanauer Attentat bereits in Vorbereitung. Und womöglich wussten es einige Behörden und haben nicht eingegriffen und es laufen lassen. Jetzt dasselbe: Alle sagen, dass sich Hanau nicht wiederholen darf, aber es gibt keine Konsequenzen, so dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass jetzt gerade irgendwo ein nächster rassistischer Anschlag vorbereitet wird. Behörden kriegen das wieder mit oder müssten es mitkriegen, doch wieder wird nichts unternommen. So geht es immer weiter. “Vor diesem Hintergrund formulieren die Angehörigen und ihre UnterstützerInnen in ihrem Aufruf zur Demonstration am 22. August sehr scharf: „Unsere Frage an die Politik und die Behörden: Worauf wartet Ihr eigentlich, wenn nicht auf den nächsten Anschlag?“ Und im weiteren Text kombinieren sie „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“ zu einer Sequenz von Forderungen, die die Frage einer Zäsur auf die Tagesordnung setzt. Von unten! „Wir wollen, dass Hanau keine Station von vielen ist, sondern die Endstation.“ Alle Erfahrungen zeigen, dass nur anhaltender Druck erzwingen kann, Hanau zur Zäsur zu machen. Die Demonstration am 22. August ist ein wesentliches Momentum darin. Die entschlossenen Angehörigen haben es mehr als verdient, dass Ihnen dabei viele Tausende den Rücken stärken. Kommt nach Hanau!