Die Türkei soll der Europäischen Union beitreten - oder besser doch nicht? Die Frage ist nicht neu, sondern eigentlich seit Mitte der sechziger Jahre beantwortet, als die damalige EWG mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen schloss. Darin wurde der Türkei eine Beitrittsperspektive nach 20 Jahren eröffnet. Fast 40 Jahre später kommt das Thema nun offenbar ernsthaft auf die Tagesordnung - in der Innen- und Außenpolitik.
Innenpolitisch ist die Sache einfach: es herrscht Wahlkampf, Landtagswahlkampf. Und zumindest in Hessen möchte die CDU anti-türkische Vorbehalte und diffus ausländerfeindliche Gefühle auf ihre Mühlen leiten - das hat man im letzten Wahlkampf bereits erfolgreich inszeniert. Nun setzen Roland Koch und andere aus CDU/CS
aus CDU/CSU anti-türkische Duftmarken, die sich offiziell auf einen EU-Beitritt der Türkei beziehen, politisch aber signalisieren, dass es im Lande schon genug Ausländer gebe. Man spricht von "europäischen Werten", von der "europäischen Identität Europas", bisweilen sogar von der "christlichen Identität" oder von den "christlichen Wurzeln" Europas. Solche Formeln vermeiden ausländerfeindliche Verbalexzesse wie bei der letzten Wahl, wärmen aber doch das Herz - und darauf kommt es im Wahlkampf an. Als gäbe es die Kopenhagener Beitrittskriterien der EU nicht, in denen klar wirtschaftliche und politische Bedingungen für alle Beitrittskandidaten formuliert wurden - die Beachtung von Demokratie und Menschenrechten eingeschlossen. Die CDU/CSU deutet mit ihrer neuen Kampagne an, dass es ihr nicht um diese europäischen Werte geht - wer wollte ihr widersprechen? -, sondern um eine kulturalistische Bestimmung Europas: Muslime raus aus der EU! Das Abendland muss christlich bleiben.Nun ist diese Kampagne so durchsichtig wie dämlich, aber sie sollte nicht dazu führen, in den gegenteiligen Reflex zu verfallen. Die Überlegung, ob ein Beitritt der Türkei in die EU wünschenswert ist oder nicht, muss unabhängig vom Wahlkampf erfolgen. Für den Beitritt sprechen zuerst einmal innenpolitische Gründe, besonders die erleichterte Integration der in der Bundesrepublik lebenden Migranten aus der Türkei. Ein Beitritt würde beispielsweise die Angleichung der Rechte türkischer und kurdischer Migranten stärken, besonders auf dem Arbeitsmarkt. Außenpolitisch hätte er den Vorteil, Bürger- und Menschenrechte sowie die Demokratie insgesamt in der Türkei zu stärken. Beides sind gewichtige Argumente.Aber ein Beitritt der Türkei brächte für die EU auch erhebliche Nachteile, vor allem finanzielle. Die Türkei ist ein großes, bevölkerungsreiches Land mit einer Ökonomie, die weit hinter westeuropäischem Niveau zurückbleibt. Ein Beitritt wird auch dann teuer, wenn man von längeren Übergangsfristen ausgeht. Da wäre es nicht zuviel verlangt, seriöse Kostenschätzungen zu kennen, bevor man Entscheidungen trifft. Vor allem aber besteht die Gefahr, dass ein Beitritt zusätzlicher Länder - auch, aber nicht nur der Türkei - die EU strukturell überfordert. Die internen Verfahren sind ohnehin schwerfällig und bewegen sich hart am Rande der Funktionsfähigkeit. Ein weiteres Aufblähen der Mitgliederzahl könnte zur Lähmung führen, gleichgültig um welche Beitrittsländer es sich handelt. Die EU hat ihre Hausaufgaben einer Straffung, Effektivierung und Demokratisierung bisher nicht wirklich erledigt. Vorher neue Kandidaten aufzunehmen, ist hoch riskant. Die Schuld dafür liegt natürlich nicht bei der Türkei, sondern der EU - was am Problem aber nichts ändert. Damit verbunden stellt sich die Frage, welche Vision für eine Europäische Union anzustreben ist. Dabei besteht die Alternative, sie entweder immer weiter zu verbreitern und zu verflachen, oder die Integration zu vertiefen, dann aber die Zahl und Heterogenität der Mitgliedsländer begrenzen zu müssen. Bereits heute - spätestens nach der neuen Aufnahmerunde - stellt sich die Frage, ob die EU noch in der Lage ist, weiter zusammenzuwachsen. Auch das ist nicht die Schuld der Türkei, hat auch nichts mit irgendwelchen christlichen Identitäten Europas zu tun, bleibt aber ein reales Problem.Und dann ist da noch die US-Regierung, die immer massiver auf einen EU-Beitritt der Türkei drängt - ohne sich natürlich an den Kosten beteiligen zu wollen. Dieses Drängen ist nicht völlig selbstlos. Einerseits verspricht man sich davon eine Stärkung der Stabilität des türkischen NATO-Partners, zugleich aber eine Schwächung der EU und eine Stärkung der US-Position innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Wenn die britische Sonderrolle, in der EU immer wieder als Hilfstruppe der US-Administration aufzutreten, durch einen weiteren - diesmal türkischen - US-Lobbyisten verstärkt würde, hätte Washington noch mehr die Chance, die weitere, interne Entwicklung der EU zu beeinflussen. Mit dem Bemühen der Bundesregierung, dem derzeit verärgerten Bündnispartner USA entgegenzukommen, indem man die Aufnahme der Türkei fördert, wird ein neues und langfristig viel brisanteres Problem geschaffen. Vieles spricht also dafür, das Begehren der Türkei abzulehnen. Nur mit den Gründen, die von der CDU/CSU genannt werden, hat all das nichts zu tun.