Der Kerl muss weg", hieß es das letzte Mal, als dem Kronprinzen Wolfgang Clement einer vor der Nase saß. Das war 1998, als er Johannes Rau im Amte des NRW-Ministerpräsidenten folgte. Drei Jahre hatte er für diese harte Arbeit benötigt. Bei Kanzler Schröder scheint er nun nach wenig mehr als drei Monaten zum Ziel zu kommen.
Schon zur Wahlnacht am 22. September kam der NRW-Ministerpräsident nach Berlin. Sein vorgesehener Job wäre Vizekanzler unter dem Kanzler Stoiber gewesen. Alles schien darauf zuzulaufen, denn eine von Möllemann antisemitisch verdorbene FDP wäre für Stoiber als Koalitionspartner international nicht vorzeigbar gewesen. Dummerweise wählte das Volk dann anders als vorgesehen. Und Clement war, obwohl anwesend, medial v
, medial vom Erdboden verschluckt. 18 Stunden bekam ihn kein Journalist zu Gesicht.Seit der Bundestagswahl ist in allen Medien lang und breit philosophiert worden, was die Regierung falsch gemacht hat. Schröder hätte Urlaub machen, mehr über die "großen Linien" nachdenken und "dem Volk" dann alle "Wahrheiten" sagen sollen; so lassen sich die Ratschläge regierungsnaher und -ferner Kommentatoren zusammenfassen."Die großen Linien": Wer wollte bestreiten, dass sie fehlen. Sie fehlen dieser Regierung allerdings schon seit ihrem Amtsantritt 1998. Nach dem Desaster, das die Grünen mit ihrem berühmten "Fünf-Mark-Beschluss" zum Benzin erlebt hatten, drückte Schröder in den damaligen Koalitionsverhandlungen das Dogma durch, "über fünf Pfennig (Ökosteuererhöhung pro Liter und Jahr) ist mit mir nichts zu machen". Damit war die finanzpolitische Immobilität der Koalition in Stein gemeißelt. Dieser Vorgang war kennzeichnend für den gesamten reformpolitischen Mut der Koalition: nicht über fünf Pfennig. Die Folgen badet derzeit gerechterweise die SPD aus. Dafür verdient sie kein Mitleid."Dem Volk die Wahrheit sagen": der Hauptstrom der medialen Kommentatoren verlangt nach einer "Blut-Schweiß-und-Tränen"-Rede. Wer bluten, wer schwitzen und wer weinen soll, vor dieser Entscheidung hat sich Schröder meistens gedrückt, weil er immer erst Witterung aufnehmen will, welcher Wind weht. Der Rest an "Neuer Mitte" hatte ihn im Wahlkampf schmählich und opportunistisch im Stich gelassen. Freunde hat er keine mehr, weil er selbst immer glaubte, keine zu brauchen. Oft genug sind sie gefährlicher als Gegner und Feinde. Wirkliche Freunde sind intellektuell weit weg (zum Beispiel Oskar Negt) oder wollten sich verändern, wie der wenig bekannte, aber für Schröder als Ratgeber wichtige Regierungssprecher Heye.Der politische "Freund", der Schröder ideologisch und in der cholerischen Stilistik am ähnlichsten ist, scheint die größte Gefahr für des Kanzlers Amt: "Superminister" Wolfgang Clement. Als "Genosse der Bosse" verkörpert er eine Steigerung Schröders. Von der Ladenschluss-Liberalisierung bis zur Einführung neuer Billigjobs steht er für die kapitalfreundlichsten "modernen" Teile der Sozialdemokratie. Gleichzeitig ist er aber ganz der "alte" Sozialdemokrat, wenn es um Kohle- und Stahlsubventionen geht. Dafür liebten ihn die Konzernherren in NRW. Ausnahmegenehmigungen für deutsche Konzernfusionen werden an ihm so wenig scheitern wie Rüstungsexporte. Dass er einen ruinierten Landeshaushalt und einige Subventionsskandale hinterlässt, berührt ihn und sein Image nicht. Damit müssen sich seine Nachfolger rumschlagen.Die einmalige Chance, statt - wie ursprünglich erhofft - Vizekanzler sogar Bundeskanzler werden zu können, wird er sich nicht entgehen lassen. Die erfolgversprechendste Taktik ist die der tödlichen Umarmung. Clement wird öffentlich politisch nicht einen Millimeter von Schröders Seite weichen. Mag er die politisch richtige und sogar wahlerfolgversprechende Initiative der SPD-Bundesländer für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer angestoßen haben, so ließ er sich als neuernannter Bundesminister in ihrer Bekämpfung von Schröder kaum übertreffen. Damit wird er auch die furchtsamen CDU-nahen Opfer dieser Steuer von seiner Kanzlerfähigkeit überzeugen können. Und als Juniorpartner der SPD hat die CDU vielleicht nicht ganz so viel Angst vor der "drohenden" Regierungsübernahme, wie das nach Neuwahlen der Fall sein könnte.Denn so weit hat es der Neoliberalismus der neunziger Jahre immerhin schon geschafft. Die Politik und ihre Parteien und Organisationen sind mittlerweile in ihrer Substanz und Qualität so weit geschwächt, dass sie Verantwortungsübernahme mehr fürchten als erhoffen. Ein Bundeskanzler Clement würde diese Entwicklung kraftvoll vorantreiben. Politik soll sich weiter aus gesellschaftspolitischer Gestaltung heraushalten. Das ist es, was sich große Shareholder wünschen. Wenn es nach derzeit zu erwartenden Wahlniederlagen in Hessen und Niedersachsen in der SPD noch mehr drunter und drüber geht, wird Schröder schnell die Lust verlieren, Gabriel wäre kein Hoffnungsträger mehr und nur der "Retter" Clement bliebe übrig, ob mit oder ohne Koalitionswechsel.Aber die Probleme wachsen: "Mehr Risiko, weniger Sicherheit" ist die angebliche Wahrheit, die dem nervösen Publikum verkündet und nur zu gut verstanden wird. Das steigert die Nachfrage nach dem selteneren Gut: der sozialen Sicherheit. Darum steigt die Sehnsucht nach Familie bei gleichzeitigem Geburtenrückgang. Darum wird weniger gekauft, mehr gespart und - sofern noch vorhanden - immer mehr um den Arbeitsplatz und das zukünftige Einkommen gefürchtet."Sicherheit im Wandel" wäre die richtige Antwort. Der Slogan wurde in der SPD-Wahlkampfzentrale Kampa mehrmals gespielt und bei etlichen Anlässen ausprobiert. So richtig haben sie sich aber nicht getraut, weil vielleicht einige - unter anderem der Kanzler? - nicht damit warm wurden, vor allem aber weil sie keine Strategie hatten, wie diese Sicherheit im Wandel denn gesichert werden soll. Sicherheit, im physischen, rechtlichen und sozialen Sinne, ist eine gesellschaftliche, politische und staatliche Aufgabe. Die Menschen haben die richtige Wahrnehmung, dass sie nicht erfüllt wird. Also kümmern sie sich, wenn sie können, immer mehr privat darum.So entsteht ein Vakuum. Wenn die Parteien keine soziale Sicherheit mehr anbieten, entsteht Platz für falsche Propheten und politische Rattenfängerei. Einen Versuch haben wir in diesem Jahr erlebt und zum Glück besser überstanden als viele unserer Nachbarländer. Dem Zentralrat der Juden ist unsere Gesellschaft zu großem Dank verpflichtet, weil es ihm zusammen mit andern Kräften, zum Glück auch etlichen Massenmedien, gelang, die Möllemannsche Strategie des Spiels mit Antisemitismus und Ressentiments im letzten Wahlkampf tabuisiert und isoliert zu haben. Es hätte auch anders kommen können. Wenn eine der verbalen ausgestreckten Hände Westerwelles ergriffen worden wäre, wer weiß, wo wir dann heute schon wären. Doch das sollte kein Grund zur Beruhigung sein. Denn wie lange wird das halten? In den Problemzonen des Ruhrgebietes hat die FDP ihren Stimmenanteil bei der Bundestagswahl verdoppelt. Was, wenn es den Deutschen mal wirklich schlecht geht? Welche Parteien würden den nächsten Möllemann aufhalten? Clement wird es jedenfalls nicht tun. Er hätte um ein Haar in NRW mit ihm koaliert.