Gesundes Misstrauen - so lässt sich am ehesten die Haltung der Argentinier zu ihrem seit drei Monaten regierenden Präsidenten Néstor Kirchner beschreiben. Man würde ja gern hinter ihm stehen; seine Maßnahmen, die dem Respekt der Menschenrechte dienen, finden verhaltenen bis resoluten Beifall. Aber deswegen ihm gleich vertrauen? Immerhin ist er ein Politiker, und Politiker verdienen Vertrauen im Regelfall nicht, so die vielfach bitter belegte argentinische Erfahrung.
Néstor Kirchner ist außerdem Peronist, und die peronistischen Präsidenten des letzten Jahrzehnts - der alerte Carlos Menem und der dröge Übergangspräsident Eduardo Duhalde - standen im Ruf, Mafiosi zu sein. Gut Freund waren sie nur mit einer kleinen Schicht von Superreichen,
erreichen, die am Bankrott des Staates bestens verdient hat.Allerdings legt das jetzige Staatsoberhaupt Wert darauf, zu den Linksperonisten gerechnet zu werden. Schon eine Woche nach seinem Amtsantritt empfing er die Menschenrechtsorganisation Mütter des Plaza de Mayo und machte kein Hehl aus seiner Ablehnung der bis dato geltenden Amnestiegesetze für Ex-Militärs. Diese Dekrete markierten das vorläufige Ende einer langen Geschichte, die einst mit der Diktatur zwischen 1976 und 1983 begann. In jener Zeit verschwanden 30.000 Menschen, die verhört, gefoltert und vielfach aus Hubschraubern ins Meer geworfen wurden. Viele Kinder der Verschwundenen wurden entführt und Militärs zur Adoption "geschenkt" - Verbrechen, die allgemein bekannt waren, aber kaum geahndet wurden.Zwar sahen sich 1985 in einem Aufsehen erregenden Prozess Obristen wie Juntachef Videla und seine Paladine zu langjährigen Haftstrafen verurteilt - das war bis dahin einmalig in Südamerika. In den folgenden Jahren ließ dann allerdings die Armee in gewohnt rüder Weise ihre Muskeln spielen, streute Putschgerüchte, zettelte lokale Rebellionen an, denunzierte Juristen - bis diverse Gesetze erst die niederen Ränge von der Mitschuld an begangenen Verbrechen freisprachen (sie hätten schließlich nur "Befehlen gehorcht") und im Dezember 1990 die letzten einsitzenden Ex-Generäle in die Freiheit entließen. Seitdem führen einst rechtskräftig verurteilte Mörder und Folterer in Argentinien ein beschauliches Leben als Pensionäre, allerdings unter ständigem Protest von Menschenrechtsorganisationen.Die Zäsur kam 1998, als Chiles Augusto Pinochet während eines England-Aufenthaltes festgesetzt wurde, veranlasst durch eine Klage des spanischen Richters Baltazar Garzón, der dem Ex-Diktator die Schuld am Tod spanischer Staatsangehöriger in den Jahren des Militärregimes in Chile zuwies. Auch wenn Pinochet nach mehreren Monaten Hausarrest Großbritannien als freier Mann in Richtung Santiago verlassen durfte, Baltazar Garzón ließ sich davon nicht beeindrucken und weitete seine Anklagen bald auf argentinische Militärs aus. Französische, italienische und deutsche Gerichte folgten mit Auslieferungsanträgen (in Frankreich sind beispielsweise etliche argentinische Militärs in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt). Ein Auslieferungs-Verbot der damaligen argentinischen Regierung verhinderte zunächst, dass den Beschuldigten in Europa Prozesse gemacht werden konnten. Allerdings mussten die Betroffenen fortan in ihrer Heimat ausharren, da Interpol eine weltweite Fahndung ausgeschrieben hatte.Das war der Stand der Dinge bis Anfang August 2003, als Néstor Kirchner den Auslieferungsstopp für argentinische Staatsangehörige aufhob, was prompt dazu führte, dass sofort gegen 40 Ex-Militärs und Polizisten Haftbefehle erlassen wurden, nachdem auch die Abgeordneten der Nationalversammlung die Amnestie-Gesetze für null und nichtig erklärt hatten. Kirchner hat damit Profil bewiesen, was ihm zuvor niemand so recht zutraute. Die überwältigende Mehrheit der Argentinier steht hinter seiner Entscheidung, selbst den Streitkräften scheint es inzwischen gleichgültig zu sein, wie mit den gebrechlichen Ex-Obristen verfahren wird. Das heißt, Kirchner hat keine übermäßige Courage aufbringen müssen, um mit seinem Entschluss in ein Wespennest zu stechen und einen Putsch zu riskieren - er fügt sich lediglich einer Stimmung, die ihm momentan die Unterstützung von etwa 90 Prozent der Bevölkerung sichert. Bei den Wahlen im Mai hatten nur 24 Prozent für ihn votiert.Doch hinter welchen Gittern werden die Täter sitzen? In Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland liegen Haftbefehle gegen einige wenige hochrangige Militärs vor, auch gegen ehemalige Mitglieder der Junta. In Europa ist es sicher, dass sie bei Auslieferung und Verurteilung auch ins Gefängnis kommen, in Argentinien nicht. Selbst wenn die Amnestiegesetze aufgehoben sind und bleiben, kann es Klagen beim Obersten Gerichtshof geben, die abgewiesen werden. Seine Kammern sind mehrheitlich von konservativen Richtern besetzt, die höchst ungern gegen Militärs urteilen. Auch wären zudem mindestens 2.400 Fälle neu aufzurollen. Hinzu kämen Verfahren, die 1985/86 wegen Beweisnot eingestellt wurden, bei denen aber inzwischen ausreichende Beweise vorliegen. In der Regel ziehen es Ex-Obristen vor, im eigenen Land vor Gericht zu stehen, weil sie darauf spekulieren, entweder freigesprochen oder mit milden Strafen bedient zu werden. Ex-Staatschef Jorge Videla etwa muss seit Jahren unter Hausarrest leben - eine höchst empfindliche Strafe für die Entführung Hunderter Kinder von Verschwundenen. Er wurde trotz seines Arrests gelegentlich in Restaurants oder beim Spaziergang im Park gesehen.