Jenseits vom Putin-Russland gibt es ein Russland, das der Westen nicht kennt. Da ist zum Beispiel die russische Hippieszene: Seit gut zehn Jahren findet eine kleine Stadtflucht junger, gut ausgebildeter Russen aufs Land statt. In mehreren Teilen Russlands sind inzwischen über 150 sogenannter Ökodörfer entstanden. Die russischen Hippies sind ein modernes Kulturphänomen, ihr Auftritt kommt höchstens rund 50 Jahre verzögert, und statt Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll sind diese Aussteiger scheinbar direkt zum anthroposophisch angehauchten Lebensstil russischer Variante übergegangen: New-Age-Philosophien wie Tiefenökologie und Gaia-Hypothese wurden problemlos mit alten Werten kombiniert. Die Bibel dieser Pioniere ist der erste Band der Bestseller
lerserie Anastasia. Tochter der Taiga (ab 1996), in der der ukrainischstämmige Autor Wladimir Megre, Jahrgang 1950, seine Botschaft vom einfachen Leben in Harmonie mit der Natur, Gott und dem Menschen darlegt.Vor drei Jahren besuchte der 1989 geborene Dokumentarfotograf Danila Tkachenko ein solches Ökodorf und stellte fest, dass etwas nicht stimmte. Das Bild, das sich der junge Moskauer von den Aussteigern gemacht hatte, bekam Risse. So richtig einsam wirkten diese Leute nicht. Die Bewohner waren durchaus noch mit ihrem zwar geschrumpften, jedoch aktiven Sozialleben beschäftigt. Der Fotograf war enttäuscht, er hatte etwas Anderes gesucht. Im Sommer 2009 machte er sich allein zu einer Wanderung auf. Das tückische Gelände des Hochgebirges falsch einschätzend, verlor Tkachenko den Weg und geriet, halb der Naturgewalt nachgebend, halb freiwillig, immer tiefer in den Wald. Einen Monat lang blieb er, baute sich einen provisorischen Unterschlupf und machte zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung, ganz auf sich gestellt zu sein.Die ersten Eremiten Russlands waren die Starzen, Glaubensbrüder russisch-orthodoxer Klöster und Abkömmlinge der Mönchskolonie vom Berg Athos in Griechenland. Das Jesusgebet murmelnd, durchquerten sie in endlosen Fußmärschen das Land, wenn sie sich nicht gerade zur Klausur in die Wälder zurückzogen, um in einen Dialog mit Gott zu treten. Die berühmten, Mitte des 19. Jahrhunderts verfassten Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers beschreiben das Leben der Starzen. Schriftsteller wie Nikolai Gogol, Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski holten sich von den Starzen des Optina-Klosters in der Oblast Kaluga Rat und Inspiration.Zurück in Moskau, hatte Danila Tkachenko verstanden, was er suchte, nämlich nach dem Eremiten der Moderne. Nach einem Menschen, der in keine Schublade passt, keiner Glaubensgemeinschaft angehört und auch insgeheim nicht darauf wartet, dass eines Tages jemand kommt, um ihn zu befragen, welche Erkenntnis aus solcher Askese gezogen werden kann. Während in den USA das Austreten aus der Gesellschaft bereits mit Henry David Thoreaus 1854 erschienenem Buch Walden salonfähig wurde, ist Vergleichbares in Russland nach wie vor undenkbar, verständlich in einem Land, das über Dekaden auf das kollektive Wir getrimmt wurde. Und doch existieren Russlands Outcasts.GeisterstundenDanila Tkachenkos Vater war ein Aussteiger nach alter Hippieart. Der Moskauer Geschäftsmann unternahm nach der Scheidung von Danilas Mutter eine spirituelle Reise von Indien über den Himalaya nach Tibet und durch China. Drei Jahre verbrachte er in einer einsamen Berghütte im Himalaya. Sein Sohn nun wollte seinen russischen Eremiten finden. Er forschte in lokalen Zeitungen. Die Recherchen führten ihn an die entlegensten Orte, und tatsächlich begegnete der junge Fotograf einer Reihe von Männern, deren Geschichte oft mit dem Zerfall der Sowjetunion begann, mal mit dem schlichten Motiv, fernab der Zivilisation in Einklang mit der Natur zu gelangen, mal aus dem Gefühl heraus, in einer erodierenden Gesellschaft keinen Platz zu haben. Tkachenko nennt seine Protagonisten Escapers – Entkommene. Auf gespenstische Weise ähneln sie den Outcasts Amerikas, die der Fotograf Alec Soth (Freitag ) Mitte der Nullerjahre fotografierte. Sieht man ab von irdischen Gütern wie Mobiltelefon, Fernseher, Gewehr und Satellitenschüssel, die amerikanische Aussteiger, anders als ihre russischen Brüder, selbst bis in die Einsamkeit begleiten, so ist doch das Selbstverständnis und die rousseauistische, zivilisationskritische Haltung der Männer frappierend ähnlich. Ein in einem in der Wüste Arizonas aufgestellten Trailer lebender Mann zum Beispiel sagt, er sei in der Wildnis angekommen, um sich von der US-Gesellschaft zu heilen. „Ich glaube nicht mehr an Demokratie.“ Am anderen Ende der Welt konstatiert sein unbekannter Geistesbruder, er lebe in einer Gesellschaft, die auf Lügen aufgebaut sei.Danila Tkachenkos im Berliner Verlag Peperoni Books erschienener Band Escape versammelt die Fotografien von neun Männern, die der Fotograf im Lauf der letzten drei Jahre in Russland und der Ukraine aufgesucht, nein, in den Wäldern aufgespürt hat. Die eindringlichen zarten, dann wieder von den quälend kreisenden Gedanken erzählenden Porträts reflektieren auch die große Überraschung der Männer: Da kreuzt einer auf und interessiert sich. Tkachenkos Bilder sprechen auch davon, wie sehr die Männer die Begegnung mit einem anderen Menschen vermissten. In Danila Tkachenko finden sie einen aufmerksamen Zuhörer und Beobachter, der es versteht, das Gegenüber auf liebenswerte Art aus der Reserve zu locken.Diese Männer öffneten dem Fotografen nicht nur ihre spartanischen, aus Holzplanken zusammengezimmerten oder in die Höhle eines Felsens eingegliederten Behausungen, sie ließen sich auch auf ein in Anbetracht der rigorosen Härte ihres Lebens erstaunlich leichtfüßiges, kreatives Spiel mit der Kamera ein. Kein Wunder, dass Danila Tkachenkos wunderbare Arbeit Escape mit dem ersten Preis des World Press Photo Contest 2014 ausgezeichnet wurde.
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