Wo genau Südossetien anfängt, ist nicht ersichtlich. Am Kontrollpunkt der Polizei? Am Schlagbaum, den man passieren kann, ohne die modernen Wegelagerer zu bezahlen? "Weil heute Regen ist", wie der junge Soldat lachend sagt. Erkennt man Südossetien an der Zunahme der Schlaglöcher, der Abnahme der Kioskdichte? Würden irgendwo öffentliche Uhren die Moskauer Zeit anzeigen, dann wüsste man sofort - die Grenze ist überschritten. So aber muss man fragen: Fahre ich hier noch durch ein georgisches Dorf?
Erst im Zentrum von Zchinwali, der südossetischen Hauptstadt, kann man der Grenzüberschreitung absolut sicher sein. Kyrillische Buchstaben statt der georgischen Kringel zeigen, in wessen Hände sich die kleine Rebellenrepublik, die bis zu ihrer So
u ihrer Souveränitätserklärung Territorium Georgiens war, begeben hat. Ein Staatsgebilde, das ausschließlich von Russland anerkannt wird. Zerbombte Häuser und rußschwarze Wände bezeugen, welchen Preis die Lossagung für Südossetien hatte: Hunderte starben 1991 während eines kurzen, aber heftigen Bürgerkrieges, über 100.000 Georgier verließen danach ihre Heimat, die nicht länger die ihre war.Von der Hand in den MundZwölf Jahre später sind die in Schnee getauchten Gipfel des Kaukasus das Schönste, was Südossetien zu bieten hat. In grauen Straßen stehen graue Häuser mit regenzerwaschenen Wänden und Holzzäunen, und gäbe es nicht das Grün der Gebüsche, das sich um die Beine dreht, wäre es eine rundherum trostlose Gegend. Die sich über hölzerne Vordächer rankenden Weinreben lassen ahnen, wie schön es hier sein könnte, wenn Frieden wäre und Geld ins Land flösse. Aber so geht die Unordnung umher mit ihren schwarzen Fingernägeln. Im unabhängigen, aber von niemandem außer der Russischen Föderation anerkannten Südossetien existiert keine staatliche Wirtschaft. Offiziell 60, inoffiziell 80 Prozent der 96.000 Bewohner sind arbeitslos. Man lebt von der Hand in den Mund, von der Mildtätigkeit der Verwandten, vom Handel mit Russland zur einen und mit Georgien zur anderen Seite. Um Fahrräder aus Russland holen und georgischen Wein dorthin bringen zu können, ließen sich viele Georgier sogar russische Pässe ausstellen - bis die Sache aufflog und der zuständige Abteilungsleiter gefeuert wurde.Alan Parastajew leitet seit sechs Jahren eine südossetische Hilfsorganisation, die versucht, Georgiern und Südosseten die Wieder-Annäherung zu erleichtern. Doch man sei rechtschaffen erfolglos, bekennt der Vierzigjährige mit Bitterkeit. Stets zerstöre die große Politik jede kleine Hoffnung. "Der Konflikt in Südossetien war und ist kein ethnischer, sondern ein rein politischer. Es geht hier um viel Macht, ein bisschen Öl und darum, wer Recht behält im Kräftemessen. Deshalb scheitert jede Verhandlung. Es hat in zehn Jahren keinen einzigen Schritt vorwärts gegeben. Wir haben keinen Krieg mehr, aber Frieden würde ich den jetzigen Zustand auch nicht nennen wollen." - "Kann es überhaupt eine politische Lösung geben?" Die Frage müsse zurückgestellt werden, glaubt Parastajew. "Wir hatten es mit einer Antwort darauf zu eilig. Die Leute interessiert die politische Seite nicht, sie wollen einfach wieder Arbeit und ein geregeltes Einkommen. Wenn alle wieder satt werden, löst sich manches vielleicht von selbst ..."In Europa kräht kein Hahn nach Südossetien und auch die Russen werden wegen eines kleinen Haufens identitätskonfuser Rebellen nicht zuviel riskieren. Der Wunsch mancher Südosseten, mit Nordossetien vereinigt zu werden, um einen eigenständigen Staat zu bilden oder im Schoße der Russischen Föderation zu leben, wird kaum in Erfüllung gehen.Georgiens Strategie ist es, Südossetien so lange bluten zu lassen, bis es zurückgekrochen kommt. Spieler, Verschwender und nichts als Trunkenbolde seien die Osseten, urteilte der französische Schriftsteller Alexander Dumas 1859. Sie gäben ihr Geld für Tabak und Branntwein aus. Nicht wenigen Georgiern klingen diese Sätze wie Musik in den Ohren. Ihre Begründung, warum Südossetien keinen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit habe, ist seit zwölf Jahren die gleiche und nährt sich aus Ressentiments und einer diffusen Herleitung uralter Landansprüche. Vor 100 Jahren habe es in Südossetien nur eine Handvoll Osseten gegeben, ergo sei es georgische Erde. Die Angst, das Land werde an Autonomieansprüchen zerbrechen, wühlt wie ein Maulwurf in den Seelen der Georgier. Schließlich geht es nicht nur um Südossetien und das ebenfalls abtrünnige Abchasien im Nordwesten, sondern auch darum, Nachahmer abzuhalten. Am Schwarzen Meer regiert Aslan Abaschidse die autonome Provinz Adscharien (s. Karte), als sei sie sein Königreich. Und dort, wo die Armenier in der Mehrheit sind, wollen die ebenfalls Autonomie oder gar Souveränität. Schon jetzt regiert Präsident Schewardnadse nur noch über 80 Prozent des eigentlichen Staatsgebietes, da scheint eine mittelschwere Paranoia vor dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung erklärbar.Wodka aus der WasserleitungAllerdings erscheint die Empörung der Georgier über die abtrünnigen Osseten nicht sehr glaubwürdig. Es war ihr Landsmann Stalin, der den Osseten als Dank für revolutionäre Treue ein autonomes Terrain innerhalb Georgiens schenkte. Außerdem ist die Sehnsucht nach Alleingängen, wie sie viele kaukasische Minoritäten pflegen, Resultat nationalistischer Großmäuligkeit. "Georgien den Georgiern" verkündete der einstige Staatspräsident Swiad Gamsachurdia, kaum, dass Georgien 1991 aus dem Sowjetverband ausgeschieden war und seine Unabhängigkeit erklärt hatte.Zehn Jahre lang sah es so aus, als seien die Versuche der OSZE erfolgreich, mit russischen, georgischen und ossetischen Friedensschützern für die Einhaltung der 1991 vereinbarten Waffenruhe zu sorgen. Sogar Konzepte zur Rückkehr der Flüchtlinge schienen nicht mehr nur bloße Utopie zu sein. Als dann aber im Januar 2001 der Nationalist Robert Kocharjan in Zchinwali Präsident wurde und Ende des gleichen Jahres die russisch-georgischen Beziehungen einbrachen, war es mit der Tuchfühlung wieder vorbei. Georgiens Ambition auf einen NATO-Beitritt 2005 und die Präsenz amerikanischer Militärtrainer in Tbilissi - eine Geste der Amerikaner, um kräftig und gezielt auf Russlands Fuß im Kaukasus zu treten - werden von den Osseten mit Skepsis beobachtet. Seit die Georgier (auf Druck Wladimir Putins) das als Rückzugsort der tschetschenischen Guerilla geltende Pankisi-Tal "säubern", fürchtet man in Südossetien, Schewardnadses militärische Putzkolonne könnte bald auch hier einrücken.Für die etwa 15.000 Georgier, die geblieben sind und deren Leben wie der Spagat über einer Felsspalte wirkt, sind das traurige Entwicklungen. Bondo Papuashwili, der mit seiner Familie in einem kleinen georgischen Dorf in der Nähe von Zchinwali lebt, wird nicht müde zu beteuern, dass Osseten und Georgier selbst während des Krieges Freunde waren. "Wir haben zusammen gegessen, Wein getrunken, geraucht. Wir haben nie aufeinander geschossen, es waren Soldaten, die das taten." Dass er nun nach der Moskauer Zeit leben und für die Eier des Nachbarn in Lari (Währung Georgiens - die Red.), im Lebensmittelladen aber in Rubel bezahlen muss, findet er widersinnig. Mit jedem Jahr verstärke sich das Gefühl, weniger in Georgien und mehr in Russland zu leben, aber das Land zu verlassen, daran denke er nicht. "Das ist meine Heimat. Wenn du hier den Wasserhahn aufdrehst, fließt Wodka aus der Leitung. Gerade ist mein Vater operiert worden. 200 Dollar wollten die Ärzte in Zchinwali haben, in Tbilissi wären es 500 gewesen."Der Freihandelsbasar außerhalb Zchinwalis wird seiner Legende nicht gerecht, denn verbotenes Schmuggelgut sucht man vergeblich. Entlang der Straße verkaufen einige verwahrloste Männer Benzin aus Kanistern oder Öl in Dosen oder Ersatzteile für Autos. Der größte Teil des Basar-Platzes ist leer, raues Steppengras überwuchert die Standplätze, Regenwasser sorgt für knöcheltiefe Schlammrinnen. Viele, die sonst Waren aus Russland holten, erzählt einer der Händler, hätten in diesem Jahr kein Geld. Der Winter sei zu lang gewesen und habe die Kunden vertrieben. Waffen? Natürlich, die könne man immer hier kaufen. "Wenn man die richtigen Leute kennt. Öffentlich auslegen wird die keiner." An seinem Stand bietet er westliche Softdrinks, Butter, Wodka, russische Zigaretten. Bezahlt wird in Rubel oder Dollar. Wie viel seine Ware in georgischen Lari kosten würden, weiß der Mann nicht.Dass man es in der Zwergrepublik zu etwas bringen kann, bezeugen die Luxuswagen, die wie Gefährte aus einer anderen Welt über die vom Frühlingsgüssen überschwemmten Straßen der Hauptstadt schaukeln. An ihren Nummernschildern sind sie eindeutig als Wagen von Regierungsmitgliedern zu identifizieren. Dank eines gewissen Hangs zur Korruption kommt auch hier, im südlichen Kaukasus, ein dezentes savoir vivre zu seinem Recht.
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