Marieluise Fleißer hat sich nach dem Krieg als Dichterin nicht respektiert gesehen, wie gerade durch den zu ihrem 100. Geburtstag im Suhrkamp-Verlag veröffentlichten Briefwechsel wiederholt belegt wird: nicht ganz freiwillig aus der großen Stadt Berlin im Jahr 1932 in ihre Heimatstadt Ingolstadt zurückgekehrt, wegen ihres "Schmäh- und Schandstücks", den 1929 im Schiffbauerdamm-Theater uraufgeführten Pionieren in Ingolstadt der Häme ausgesetzt und während der Nazizeit deswegen als suspekt behandelt. Aber nachdem sie 1953 den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste erhalten hatte und deren Mitglied geworden war, wurde sie schließlich auch in Ingolstadt als kulturelle Größe wahrgenommen. Schon 1951 hatten
951 hatten die Ingolstädter die zweite Inszenierung (nach der Uraufführung in den Münchner Kammerspielen im November 1950) ihres Volksstücks Der starke Stamm ohne Vorbehalte mit Vergnügen angesehen.Zum 60. Geburtstag 1961 bekam sie den eigens ihretwegen gestifteten Kunstförderpreis und zum 70. gar die Goldene Stadtmedaille verliehen. 1968 kam im Ingolstädter Stadttheater Der starke Stamm neu heraus, 1971 folgte die Aufführung ihres Fegefeuers in Ingolstadt, mit dem sie 1926 in Berlin debutiert hatte. Nicht mehr erleben sollte sie dagegen die "Heimholung" der Pioniere in Ingolstadt im Jahre 1981: Wohl versehen mit den heiligen Sterbesakramenten, war sie sieben Jahre zuvor 73-jährig verstorben.Seitdem hat sich die Stadt Ingolstadt durchaus nicht lumpen lassen und sich das Andenken an Marieluise Fleißer etwas kosten lassen. Aus Anlass des 80. Geburtstages wurde der Marieluise-Fleißer-Preis gestiftet (bisher siebenmal vergeben, im jetzigen Jubiläumsjahr an Petra Morsbach). Mitte der Neunziger erwarb das Stadtarchiv sogar den gesamten Nachlass, 1996 wurde die Marieluise-Fleißer-Gesellschaft gegründet, 2000 eine Fleißer-Gedenkstätte im heimatlichen Haus in der Kupferstraße 18 eingerichtet. Nun, zum hundertsten Geburtstag, präsentiert das Stadtmuseum unter dem Titel Diese Frau ist ein Besitz eine Sonderausstellung über Leben, Werk und Wirkung der Dichterin, hervorragend recherchiert, dokumentiert, bebildert und kommentiert durch Ingrid Eiden und Hiltrud Hänztschel.Der Verdacht, dass es sich bei solcher Zuwendung um eine Art Ablasshandel mit Freikauf von frühen und früheren Übersehungen des heimischen Dichtergenies handeln könnte, wurde erfreulicherweise gerade durch den Höhepunkt der Jubiläumstagung Rückblicke zum 100. Geburtstag entgegenständlicht. Im Eröffnungsbeitrag Marieluise Fleißers Lebenserzählung - Dokumente und Fiktionen stellte die Münchner Germanistin Hiltrud Häntzschel nicht mehr und nicht weniger als das ganze Fleißer-Bild, sei es von dieser selbst entworfen oder von anderen nachgestaltet und ausgelegt, zur Disposition. In der zum "Kultbuch" gewordenen, weil autobiographisch wirkenden Avantgarde (1963) erkennt sie die Behauptung, die junge Fleißer sei "an der vom männlichen Genius besetzten Avantgarde" und an der "Rivalität von Berlin und Provinz" gescheitert als pure "Mythen". In Bezug auf das Verhältnis zu Brecht kommt sie zum Schluss: "Wenn eine Frau, die Brecht begehrte, von ihm nicht ausgebeutet und hintergangen wurde, dann war es Marieluise Fleißer." Diese Berichtigung verschärfte die Referentin noch durch den Verweis darauf, dass die Fleißer selbst in ihrem Lebenslauf für die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer den samt Familie ins Exil getriebenen Brecht noch nachträglich denunzierte: "In München", schrieb sie, "hatte ich flüchtig einen gewissen Bert Brecht kennengelernt", und "Brecht legte mir einige Wochen vor der Aufführung (der "Pioniere" - E.S.) meinen Eintritt in die kommunistische Partei nahe, was von mir abgelehnt wurde." Die Referentin kam an Hand anderer einschlägiger Texte zur Folgerung, die Fleißer habe seitdem je nach Opportunität und gegebener Möglichkeit, sich damit attraktiv zur Geltung zu bringen, ihre Biographie um- und "zwischen Dichtung und Wahrheit entlanggeschrieben".Besonders problematisch sei, dass nachweisbar falsche Angaben als authentische Zeugnisse auch in die 1972 erfolgte Ausgabe der Gesammelten Werke eingegangen und noch in der 1989 erneuerten enthalten seien.Nicht nur Mitglieder der Fleißer-Gesellschaft schienen schockiert. Dabei hatte die Referentin die eigentliche Problematik nur vorsichtig umschrieben, nämlich dass die junge Fleißer den Zusammenhang zwischen künstlerischer und politischer Avantgarde, erst recht nicht ihr zeitweiliges Zusammengehen verstehen, jedenfalls ihn nicht mitvollziehen wollte - so wie es von ihr schließlich Zeit ihres Lebens keine durchdachten politischen Ansichten und Aussagen geben sollte. Unerwähnt blieb, dass in dieser kleinbürgerlich-opportunistischen (A-)Politizität der eigentliche Grund zu suchen ist, dass sie mit dem "marxisierten" Brecht auch nach dem Krieg zu keiner produktiven Zusammenarbeit mehr zu kommen wusste und dass der Fleißer gerade deshalb in der restaurativen Bundesrepublik jene kulturpolitische Akzeptanz zuwuchs, wie sie in den eingangs erwähnten Auszeichnungen, Förderungen und Mitgliedschaften manifest wurde.Die potenzielle Sprengwirkung des Referates von Hiltrud Häntzschel wurde allerdings durch das nachfolgende Referat von Irmela von der Lühe über Die Ordnung der Geschlechter in der Prosa Marieluise Fleißers und durch den Erfahrungsbericht über die fleißersche Figurensprache auf der Bühne durch die Regisseurin Helga Illich-Wiesner soweit entschärft, dass die Weihestimmung des Zentenariums wieder voll hergestellt war.Wiederum ganz in den gängigen Mythos von der jungen Dichterin, die in München durch freie Geister erweckt, in Berlin aber für deren Zwecke "instrumentalisiert", schließlich "vom Mann" unterjocht wird, passte die episch angelegte Dramatisierung Marieluise von Kerstin Specht, die am Geburtstagsabend unter der Regie von Silvia Armbruster aufgeführt wurde. In einem engen Geviert (Michael S. Kraus) werden von sieben vornehmlich jungen Schauspielern markante Szenen aus dem Leben der Fleißer gespielt, beginnend mit den Kriegserlebnissen in der Klosterschule bis zur Sich-Fügung der Fleißer in die Ehe mit dem amusischen Tabakwarenhändler. Bedauerlich ist, dass die Regie aus dem jungen Brecht (Heimo Essl) einen grobianischen Viechskerl macht. Völlig unprofiliert blieb die Figur seines Gegenspielers, des Egomanen Hellmut Draws-Tychsen (auch Essl), an den sich die Fleißer hing. Dass die Fleißer, wie es die Dramatikerin darstellt, von ihm nichts anderes mehr will als endlich ein Kind, gibt zwar darstellerisch viel her, nichts aber für den wirklichen Nachvollzug dieser unglücklichen Liaison. Lakonisch trocken gibt Peter Greif als Bepp Haindl der am Boden Zerstörten seine Anweisungen, wie sie als Ehefrau ab sofort das Geschäft zu führen statt zu dichten hat. Fast kitschig wirkt es, wenn daran noch die Auferweckung und Mutterwerdung der Fleißerin von "allen meinen Söhnen" und Töchtern, von Sperr bis Specht also, angehängt wird. Ob schließlich die offen gebliebenen Fragen dieses Fleißer-Jubiläums in dem Vortrag Es müsste um Gottes Willen sich lohnen - Marieluise Fleißers Herkunft aus der katholischen Religion von Andreas Betz metaphysisch gelöst wurden, konnte vom Berichterstatter nicht ermittelt werden.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.