Pham will gleich zu Beginn etwas klarstellen. Der Sinn für Begrüßungszeremonien blieb ihm erhalten. Er hat seine Schüler in Dreierreihen aufgefädelt. Selbstverständlich ist das Arrangement so perfekt, dass auch die Schule ins Blickfeld gerät. Eines der luftigen, flachen, fast immer weißgelb gestrichenen südvietnamesischen Bauernhäuser, wie sie besonders von den Reisbauern im sonnenüberfluteten, feuchtheißen Mekong-Delta bevorzugt werden. Das bei derartigen Ankünften unvermeidliche »Vietnam - Ho Chi Minh« erklingt. Die Eloge an das Vaterland und den Staatsgründer lässt sich vom forschen Marsch bis zum melancholischen Liebessong in vielerlei Färbung hinzaubern. Bei Phams zehn- bis elfjährigen S
Kann die Zeit so blind sein?
VIETNAM Die Flucht des Kommunisten Pham Coung vor einer seltsamen Renaissance
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#228;ngern klingt es wie ein Wanderlied.Hierher also hat es Pham Cuong verschlagen. Pham, den Lehrer, den Erzieher, den Chronisten, den Kurier, den Revolutionär - hierher nach Dac Tún, in diese winzigen Gemeinde am Südzipfel der Provinz Tay Ninh, die schon bald nach Kambodscha herübergreift, aber dem Autofahrer auch nur eine zweistündige Tour bis Ho-Chi-Minh-Stadt abverlangt. Für Pham der Weg zurück, wenn er es denn wollte.Die Seele zum Verkauf bieten1985, zehn Jahre nach dem Ende des Vietnam-Krieges, traf ich Pham in Ho-Chi-Minh-Stadt zum ersten Mal. Er lebte damals in einer der verwitterten Stadtvillen, mit denen sich die französische Kolonialarchitektur am Boulevard Pasteur in Erinnerung hält. Pham musste nur ein paar Schritte gehen und stand vor der St.-Joseph-Kathedrale. Und er brauchte am frühen Morgen nur auf die Terrasse zu treten, um sehen zu können, wie die Wachsoldaten am Doc-Lap-Palast das rote Tuch mit dem gelben Stern der Sozialistischen Republik Vietnam aufzogen - hinter jenem berühmten Tor, das am 30. April 1975 ein Panzer des Typs T-54 aus einem der nordvietnamesischen Elite-Bataillone durchbrochen hatte. An jenem Tag, als »Big Ming« - Südvietnams letzter Präsident - kapitulierte.Pham sollte für einen Dokumentarfilm die Geschichte seines Quartiers während der letzten Tage vor dem Fall Saigons erzählen. Er sollte vor der Kamera Episoden aus dem Strom der Erinnerung reißen, die nur er schildern konnte. Pham war jahrelang Kurier, Verbindungsmann, Beobachter der Nationalen Befreiungsfront (FLN) gewesen. Sein Maquis war die Stadt, seine Tarnung die Stelle eines Lehrers am Lycée Marie Curie, wo er Töchter aus der Oberschicht »Die Elenden« von Victor Hugo im Original lesen ließ.Pham empfahl sich dem Aufnahmeteam als glänzender Unterhalter und besorgter Gastgeber, stellte unablässig tief gekühltes Beer Saigon auf den Tisch, das trotzdem mit einem großen Eiszapfen im Glas getrunken werden musste und für den Klebereis entschädigte, der am Gaumen hing.Warum ist er 15 Jahre später plötzlich in Dac Tún, in der Provinz, gelandet? Warum nach so vielen Jahren weg aus der Stadt ?»Ich wollte zu unseren Wurzeln zurück. Weißt du, alle Tugenden Vietnams haben ihre Wurzeln hier, auf dem Land bei den Reisbauern, und warum sollte ich ihren Kinder nicht helfen? Ich musste es einfach tun ...«Phams Begrüßungstee schmeckt bitter, weil wir vergessen haben, ihn abzugießen. Das Gespräch war schneller. Pham redet weiter. Und was er sagt - seine Augen, seine Hände, seine Haut scheinen ihm zu widersprechen. Er schwitzt und lacht und raucht. Ist aus dem Revolutionär ein Romantiker geworden? Treibt ihn die Sehnsucht nach dem Idyll der späten Jahre?»Glaubst du mir nicht? Ich wollte Saigon schon lange verlassen (auch dieser alte »Viet Cong« redet noch immer von Saigon, obwohl die Stadt seit fast 25 Jahren den Namen Ho Chi Minhs trägt). Ich bin einer, dem der Frieden nicht bekommen ist. Davon gab es einige, die meisten sind heute tot - sie haben den Frieden nicht überlebt ...«Jetzt könnte er wieder lachen. In Phams Gesicht steht das Alter seit Jahren still, denke ich. Irgendwann aber wird es über Nacht in eine solche Raserei geraten, dass aus vier Wochen zehn Jahre werden. Für den ungeübten europäischen Blick gibt es nur die ewig jungen, die plötzlich alten und die uralten Vietnamesen. Dazwischen liegt nichts, lügt das Auge des Fremden.»Die Stadt ist sich wieder sehr ähnlich geworden. So wie ich sie gehasst und geliebt habe, aber das war im Krieg ...« Was war der Krieg, könnte ich ihn fragen? Dass in der Banlieue von Saigon während der Monsunzeit aus einem Bombenkrater ein Ententeich werden konnte? Oder waren es Thich Quang Duc und die anderen Mönche, die sich verbrannten? Oder die Taxi-Girls der GI's in der Rue Catinat, die später Tu Do (Freiheit) hieß?Vielleicht trifft es zu, was Pham sagt. Vielleicht trifft es zu, weil die stärksten Bilder nicht jene sind, die uns täglich heimsuchen, sondern die anderen, die wir in uns tragen, die sich ungeniert an ein Gedächtnis klammern und unerbittlich Vergleiche provozieren. Ho-Chi-Minh-City ist heute wieder eine überschäumende Stadt mit einer vielerorts schreienden (kapitalistischen?) Fassade. Was als Verheißung wirtschaftlichen Aufschwungs gilt, paart sich mit einem alles zermalmende Stumpfsinn urbanen Leerlaufs. Typisch für Metropolen Südostasiens, die eigentlich wuchernde Marktflecken sind und außer sich selbst auch ihre Seele zum Verkauf bieten.Der Schatten einer menschlichen Gestalt Es gab eine Zeit, da konnte diese Stadt dem einen oder anderen wie ein schützender Film auf der Haut liegen. Sie konnte den Kurier Pham einfach verschwinden lassen, wenn ihn ein Auftrag ins Labyrinth der Straßen rings um Ben Thanh trieb, die verrottete, stinkende, vor Hitze überkochende Markthalle am Le-Loi-Boulevard. Pham erkannte am Klappern der Kleiderbügel, mit dem die Händler aus den Schneiderateliers um Kunden bettelten, wann Gefahr im Verzug war. Im Rhythmus lag ein Code, der dazu aufforderte, sich unverzüglich unter das Arbeitsjoch eines Lastenträgers zu ducken, der mit wiegendem Schritte seine Bastkörbe voll mit Maniok durch die Halle schleppt. Oder sich nach Cholon, in die Chinesenstadt, abzusetzen, für die Polizei eine Art Feindesland, in dem man für immer verschwinden konnte.Phams Saigoner Domizil - die erwähnte Villa - lag in Rufweite des Lam-Son-Platzes, begrenzt vom Gebäude der Nationalversammlung, dem Hotel Caravelle und dem düsteren Bau des Hotels Continental, in dessen Café einst Graham Greene an seinem Stillen Amerikaner schrieb. In den sechziger Jahren war die Gegend ein Hexenkessel. »Ich werde nie vergessen«, erzählte uns Pham 1985 vor laufender Kamera, »wie es war, als keine zehn Meter vor dem Caravelle eine Flammensäule aufstieg und den Schatten einer menschlichen Gestalt umgab. Man wuss te nicht genau, was da passiert war, doch die Rikschafahrer schrieen es den Passanten hysterisch ins Gesicht: ÂEr hat sich verbrannt, er hat sich verbrannt! « - Gemeint war der buddhistische Mönch Thich Quang Duc, der am 11. Juni 1963 mit seinem Renault ins Zentrum fuhr, den Wagen parkte, einen Kanister auf dem Kofferraum nahm und in Richtung Caravelle davon ging. Thichs Selbstverbrennung wurde zum Anfang vom Ende des Diktators Ngo Dinh Diem, der mit seinem arroganten Katholizismus die buddhistische Mehrheit Südvietnams solange beleidigte, bis ihn die nordamerikanische Schutzmacht fallen ließ. Knapp vier Monate nach dem Opfertod Thich Quang Ducs putschte die Generalität und ließ Diem exekutieren (mit dem stillen Segen des US-Botschafters) ...Heute lässt der Lam-Son-Platz kaum noch ahnen, wie hier einst die Bilder explodierten, mit denen sich der Krieg vom Dschungel in die Stadt fraß. Heute unterbricht das Areal mit einem Blumenrondell die Tu-Do-Straße, die sich wieder als Flanier- und Amüsiermeile versucht. Eine Hommage voller Selbstironie an das alte Saigon, an seine Rastlosigkeit, seine Lebensgier, seine Sehnsucht nach der langen Nacht bis zum übernächsten Morgen. Ist Pham davor geflohen? Hat er deshalb ein Refugium in Dac Tún gebraucht, weil sich die Stadt hier wieder einholen lässt von den hitzigen Jahren?Doch er täuscht sich. Nichts ist hier mehr so, wie es einmal war. Die Bars, die Pubs, die Diskotheken sind laut, grell, extrovertiert. Sie locken nicht mehr. Sie baggern Gäste als müss te ein Heizkessel voll geschaufelt werden, der nur heiß ist, wenn er glüht. Daneben präsentieren sich Designer-Galerien mit französischer Mode oder Ausstellungsräume mit moderner vietnamesischer Malerei, auch das ist neu. Die New York Times ist zwar nach wie vor von gestern, aber nicht mehr porös vom letzten Nachmittagsregen. Sie hat das Trottoir und ihren ambulanten Händler längst gegen den Zeitungsständer und Patron im Bistro getauscht. Pünktlich zum Nachmittagstee krachen die Motorräder der Zuhälter über die Tu Do, um »Les Madames« über den Laufsteg zu chauffieren. Es sind nicht mehr jene lasziven Taxi-Girls im hoch geschlitzten Ao Dai (*), die mit 30 Dollar zufrieden waren, dem einstigen Tarif der Ami-Puffs im Hinterland des Lam-Son-Platzes oder unten am Fluss-Hafen.»Kann die Zeit so blind sein, dass sie alles zurückholt, was doch keiner mehr brauchen sollte?« fragt Pham. Warum eigentlich muss stets »die Zeit« unter Generalverdacht stehen? Außerdem, hat nicht die Vier-Millionen-Stadt am Saigon-Fluss auch enorme Fortschritte zu verzeichnen, an die noch von 15 oder 20 Jahren während der schlimmsten ökonomischen Depression kurz nach dem Kambodscha-Krieg von 1979/80 niemand auch nur zu denken wagte? Fortschritte im Erziehungswesen zuhauf, neue Schulen, eine weitere Hochschule, Lehrpersonal aus dem Ausland, das man sich jetzt leisten kann, Internetcafés am Huê-Boulevard, Niederlassungen von Daimler, Sony, Texaco.Pham gehört zu einer Generation südvietnamesischer Revolutionäre, denen die Befreiung 1975 nicht als Wunder erschien, obwohl sie so schlagartig kam. Sie hatten nur dafür gelebt. Und das tut man nicht in der Hoffnung auf ein Wunder. Dazu brauchte es Gewissheit. Was sie später nicht verstanden, war etwas anderes - dass die Revolution an einen toten Punkt geriet und der Sozialismus im Norden zu arm war, um im Süden Erfolg zu haben. Wahrscheinlich ist Pham vor dieser (neuen) Gewissheit geflohen. Er hat dazu alles Recht dieser Welt, auch wenn sie nun zwischen den Bambushütten und Steinhäusern von Dac Tún Platz finden muss. - Als unser Jeep abfährt, zurück nach Ho-Chi-Minh-Stadt, wartet er nicht und winkt, sondern geht schnell ins Haus. Ich blicke noch einmal zurück, die Dorfstraße ist schmal und leer, der Himmel darüber fließt davon.Baggern für den »Ho-Chi-Minh-Highway«Auf der Rückfahrt gibt es einen kurzen Stop, die Nationalstraße ist gesperrt, weil ein Konvoi mit Baumaschinen die Trasse quert. »Für den Ho-Chi-Ming-Highway«, murmelt der Fahrer. Ich glaube mich verhört zu haben, aber wie sich herausstellt, wird eine der Routen des legendären Ho-Chi-Minh-Pfads, der seit 1959 den Norden mit dem Süden verband, aus dem Schatten der Vergangenheit geholt und ausgebaut: als Nationalstraße und Touristenattraktion. Die Idee soll auf den früheren vietnamesischen Premier Vo Van Kiet zurückgehen, den theoretischen Kopf von Doi Moi - der vietnamesischen Perestroika -, deren Wirtschaftsreformen Ho-Chi-Minh-Stadt offenbar gut bekommen sind. Ob Pham davon weiß, dass ganz in seiner Nähe revolutionäre Geschichte vermarktet wird? Dass ihm auf den Fersen bleibt, wovor er floh?Wer die Tagebücher Ho Chi Minhs liest, stößt bei den Eintragungen des Jahres 1960 auf die Überlegung, südlich von Hanoi einen »Nationalpark« einzurichten - als Angebot an ausländische Gäste, die Vietnam eines Tages besuchen würden. 1960 - der Krieg köchelte schon und brach fünf Jahre später mit aller Wucht aus. Aber Ho Chi Minh konnte es wohl nicht ertragen, ihn zu erwarten, ohne an die Zeit danach zu denken.(*) Tunikaähnliches Gewand, das über einer Hose getragen wird.
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