Durch den Krieg im Libanon ist ein Thema vollends ins Abseits geraten, doch erscheint es notwendiger denn je die Bolkestein-Richtlinie wieder auf die Agenda zu setzen, soll ein europäisches "Wildwest" im Dienstleistungssektor verhindern werden.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit ist am 17. Juli der Richtlinien-Entwurf über die Liberalisierung aller Dienstleistungen - eben die bewusste "Bolkestein-Richtlinie" - vom EU-Ministerrat angenommen worden. Das 115 Seiten starke Papier klammert die Position von EU-Kommission und Ministerrat, wird dem Europa-Parlament im Herbst zur zweiten Lesung zugehen und vermutlich verabschiedet. Die Richtlinie wäre dann bis 2009 in nationales Recht umzusetzen.
Bereits Ende April hatte die Kommission eine "Mitteilung über soziale Dienstleistu
iale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" veröffentlicht, die alle Dienstleistungen im sozialen Bereich als "wirtschaftliche Tätigkeit" betrachtet. Das bedeutet, alle Dienstleistungen unterliegen dem Gemeinschaftsrecht - es gelten Dienstleistungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und das Wettbewerbsrecht - und sind den europäischen Vergabevorschriften (Ausschreibungszwang!) und dem europäischen Beihilferecht (Beihilfeverbot!) unterworfen. Obwohl der ursprüngliche Text des Bolkestein-Entwurfs nach den heftigen Protesten Anfang 2006 etwas verändert wurde, kann keineswegs Entwarnung gegeben werden.Es ist nach wie vor nicht gesichert, dass die Rechtslage des Bestimmungslandes einer Dienstleistung gegenüber der Rechtslage des Herkunftslandes Priorität genießt. Zwar werden das Arbeits- und Tarifvertragsrecht des Ziellandes anerkannt, aber tarifliche Bedingungen sind bislang nur für den Bausektor abgesichert. Darum gibt es für ausländische Dienstleister nur sehr eingeschränkte arbeitsrechtliche Vorgaben, die sie zu erfüllen haben. Gäbe es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn, würde zumindest Lohndumping erschwert. Immerhin haben inzwischen 19 EU-Staaten Mindestlöhne eingeführt, ohne dass es dadurch eine signifikant wachsende Arbeitslosigkeit gegeben hätte - ein Argument, das hierzulande oft gegen den Mindestlohn gezückt wird.Die IG Bau kritisiert zu recht, dass zwar für ausländische Unternehmer grundsätzlich das deutsche Strafrecht gelte, ausgenommen seien aber ausgerechnet all jene Gesetze, die sich auf Dienstleistungen beziehen.Die Kommission hält es nun auch nicht mehr für geboten, dass ein verantwortlicher Rechtsvertreter vor Ort als Ansprechpartner zur Verfügung stehen muss. Das heißt beispielsweise, ein Bußgeldbescheid wegen des Verstoßes gegen die Entsenderichtlinie (Schwarzarbeit, Lohn- und Sozialdumping) könnte nicht rechtsgültig zugestellt und so ein Strafverfahren nicht stattfinden. Bußgeldbescheide wären über eine Behörde im Ausland zu schicken, die diese Bescheide an die jeweilige Firmenzentrale weiterleitet - danach obliegt es den Heimatstaaten inkriminierter Unternehmen, ob sie Maßnahmen ergreifen, "um sicherzustellen, dass die Dienstleistungserbringer sich um zufrieden stellende Lösungen bei Beschwerden bemühen" (Art.27). Ebenso schwammig sind die Haftungsregeln gefasst.Originale oder beglaubigte Kopien von Zeugnissen oder anderen Dokumenten, aus denen sich die Qualifikation eines Dienstleisters ersehen lässt, müssen nicht vorgelegt werden. Um den Erwerb oder die Inanspruchnahme einer Dienstleistung zu erleichtern, behält sich die EU-Kommission das Recht vor, "einheitliche Formblätter" einzuführen, die wiederum "Zeugnissen oder anderen vom Dienstleistungserbringer vorzulegenden Dokumenten gleichwertig" sind (Art.5). Auch Nachweise über die Staatsangehörigkeit von Dienstleistern sind nicht erforderlich (Art.14), so dass theoretisch Pflegerinnen aus dem Nicht-EU-Land Ukraine über das EU-Land Litauen nach Deutschland geschleust werden könnten. Ohnehin werden Unternehmen nicht verpflichtet, vor der Arbeitsaufnahme die jeweilige Entsendung anzumelden oder genehmigen zu lassen - Unterlagen wie Arbeitsverträge oder Abrechnungen müssen nicht am Arbeitsort sein. Eine Wirtschaftsaufsicht, die unlauteren Wettbewerb begrenzt, wird das erheblich erschweren.Neben Unternehmensberatungen, Immobilienmaklern oder Baufirmen gehören auch die Rechts- oder Steuerberatung zum Anwendungsbereich der Richtlinie. Mit anderen Worten: Alle diese Branchen sind demnächst der Konkurrenz ausländischer Anbieter ausgesetzt. Ausgenommen sind (noch) Gesundheitsdienstleistungen, "die von reglementierten Gesundheitsberufen" erbracht werden. Da aber im Herbst eine EU-Gesundheits-Richtlinie veröffentlicht werden soll, steht zu befürchten, dass auch hier mit weiterer Kommerzialisierung zu rechnen ist. Ausgeklammert von der Bolkestein-Richtlinie bleiben gleichfalls nationale Bildungssysteme, wenn diese "noch überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert werden", und Sozialdienstleistungen, die etwa die Betreuung von Kindern oder Bedürftigen betreffen. In Artikel 39 wird allerdings den EU-Mitgliedern das Recht eingeräumt, "neue Anforderungen" (gemeint sind Dienstleistungen, die in die Richtlinie aufgenommen werden sollen) zu benennen. Man darf das als Freibrief für eine mögliche Marktöffnung von bislang noch geschützten Dienstleistungen verstehen.Bundestag und Europäisches Parlament sollten daher sehr wachsam sein, um eine weitere Kommerzialisierung der wenigen, nicht Markt bezogenen Dienstleistungen zu verhindern. Mit Blick auf die geplante EU-Gesundheits-Richtlinie, die einen "Gemeinschaftsrahmen für sichere, hochwertige und effiziente Gesundheitsdienste" schaffen will, wäre Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gut beraten, sich mit diesem Entwurf zu befassen. Vielleicht können wir uns die deutsche "Gesundheitsreform" ja sparen.